Zwei auf einmal
Lana schaute aus dem Fenster. Es sah gut aus. Trocken, wolkenlos, sogar ein bisschen sonnig. Vielleicht hatte sie eine Chance. Zumindest war es einen Versuch wert. Sie atmete tief durch und ging dann die paar Schritte zum Nachbarzimmer. Sie klopfte vorsichtig an.
Pauls reagierte nicht. Lana öffnete trotzdem die Tür und blieb im Türrahmen stehen.
“Paul”, sagte sie mit mehr Mut und Elan, als sie eigentlich empfand, “schau, das Wetter ist so toll heute. Lass uns ein paar Schritte vor die Tür machen.”
Er antwortete nicht. Schaute sie nur mit angstvollem Blick an. Müde sah er auch aus. Sie hatte ihn in der Nacht wieder einmal durch die Wohnung tigern gehört. Schlaflos, gehetzt, getrieben. Geschrien hatte er letzte Nacht nicht, aber auch so sah er fürchterlich angegriffen aus.
“Komm”, forderte sie ihn erneut auf. Sie bemühte sich, ihren Schwung, ihre aufgesetzte Fröhlichkeit beizubehalten. Wenn er spürte, dass sie nachgab, aufgab, dann würde sie ihn nicht zum Spaziergang überreden können.
Sie wartete noch einen Moment auf die erhoffe positive Reaktion, die aber ausblieb.
“Komm, zieh dich an. Ich hole schon einmal deine Lieblingsjacke.” Sie wollte nicht so einfach aufgeben. Dennoch verweilte sie wie gelähmt an der Tür. Sie wusste, was jetzt passieren würde.
Nichts.
Paul machte tatsächlich keine Anstalten aufzustehen.
Er schwieg eine Weile. Lana konnte diese Augenblicke, in denen nichts, aber doch alles gesagt wurde, kaum aushalten.
“Ich möchte gerne hier ausziehen”, flüsterte er schließlich mehr zu sich selbst als zu seiner Freundin. Sein Blick war nach vorne gerichtet, an ihr vorbei, zur kahlen Wand.
“Ich weiß.” Sie hatten dieses Gespräch oft geführt. Er wusste, dass es nicht ging, sie war sich bewusst, dass es für ihn unumgänglich war, diese Wohnung zu verlassen, um irgendwie eine Chance auf ein Stück Normalität zu erhalten. Ihnen beiden war klar, dass es ohne sein Einkommen nicht möglich sein würde, in der Stadt eine bezahlbare Wohnung zu finden. Aber Lana hätte sich eher ihre Zunge abgebissen, als dieses Problem anzusprechen.
“Bitte, komm mit mir zum Café. Nur zum Café. Ein paar Schritte. Nicht mehr. Wir trinken einen Espresso und dann gehen wir wieder zurück.”
Nichts, keine Reaktion. Kein Blick, keine Bewegung. Nicht einmal ein Atmen.
“Bitte”, wiederholte Lana nun flehentlich. “Bitte tu es für mich. Für uns.” Sie war den Tränen nahe. Und dem Ende ihrer Kräfte auch. Aber das hatte sie schon oft in den letzten zwei Jahren gedacht und es war immer weiter gegangen. Immer hatte sie noch irgendwo ein Quäntchen Kraft, eine kleine Spur Hoffnung in sich gefunden. Sie liebte Paul, auch wenn er nicht mehr der Mensch war, in den sie sich verliebt hatte. Den fröhlichen, unternehmenslustigen, zugewandten Paul gab es nicht mehr. Weg war er, in einer Sekunde ausgelöscht. So sehr sie Paul liebte, so sehr hasste sie Carl, der ihr Leben zerstört hatte.
Zu ihrer Überraschung bewegte sich Paul. Vielleicht hatte etwas in ihrem Flehen ihn berührt, hatte seinen Gefühlspanzer durchbrochen. Wie in Zeitlupe stand er auf und suchte sich seine Kleidung zusammen, die er achtlos im Schlafzimmer liegen gelassen hatte. Paul nahm am Alltag nicht mehr teil. Aufräumen, Putzen, Kochen, alles kostete mehr Energie als er aufbringen konnte.
Lana verließ das Zimmer. An manchen Tagen ertrug sie es kaum, ihn so zu sehen, wie er war. Eine verlorene Seele in einem kraftlosen Körper.
Sie holte ihren Mantel und wartete an der Wohnungstür auf Paul. Als er endlich vor ihr stand, nahm sie seinen Arm und führte ihn sanft, aber bestimmt vor die Tür. Schnell drehte sie sich um und schloss die Tür, bevor er seine Meinung ändern konnte. Sie hakte sich beim ihm ein, so als würden sie zu einem netten Sonntagstadtbummel aufbrechen. Er zitterte. Sie nahm seine Hand in ihre. Er schwitze. Die Hand war feucht, auf der Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Sein Atem war deutlich hörbar. Aber er lief tapfer weiter die Treppe hinunter. Zwölf Stufen bis zur Haustür. Lana hatte sie oft genug gezählt.
Sie bemühte sich wieder um Fröhlichkeit.
“Neben dem Jugendzentrum hat ein neues Café geöffnet”, plapperte sie los. “Wir könnten dort...”
Verdammt. Seine Miene versteinerte sich augenblicklich. Sie hatte einen Fehler gemacht Wie konnte sie nur so dumm sein und das Jugendzentrum erwähnen?
Paul blieb auf der Treppe stehen.
“Ich kann das nicht”, hauchte er kraftlos.
“Doch, du kannst das. Komm!”, versuchte sie ihren Faux Pas zu überspielen. “Dann gehen wir halt zum Café Weller. Das schaffst du.” Nicht auszudenken, wenn er beim Jugendzentrum noch auf ehemalige Kollegen getroffen wäre. Das würde ihn Wochen zurückwerfen.
Sie hatten die Haustür erreicht. Lana öffnete sie und trat zuerst nach draußen. So wie sie es immer machen musste, wenn sie ihn zu einem kleinen Gang nach draußen bewegen konnte.
Sie schaute nach oben, am Haus entlang in den Himmel. Dann nickte sie Paul zu.
“Alles in Ordnung”, erklärte sie.
Er zögerte trotzdem.
“Komm, da ist niemand.”
Er fing wieder an zu schwitzen.
“Warum ist Carl nicht zu mir gekommen. Ich hätte ihm helfen können? Oder Ronny. Der hatte zu allen Kids immer einen guten Draht.”
Nein, dachte Lana, bitte fang nicht damit an. Bitte tu dir das nicht an. Bitte tu mir das nicht an.
“Paul, Carl war 23. Er war kein Kind mehr, er...” Sie brach ab. Verdammt, jetzt war sie doch darauf eingegangen.
Sie griff schnell seinen Arm. “Schau selbst, alles okay da draußen.”
Paul ließ sich widerstrebend nach draußen ziehen. Sofort schoss sein Blick an der Fassade ihres Hauses hoch zu den Fenstern und blieb dabei am Fenster im sechsten Stockhängen. Es war geschlossen. Seine Augen schweiften nervös weiter über die Fronten der umliegenden Häuser. Niemand zu sehen.
Er machte zwei, drei Schritte nach vorne.
Sehr gut, dachte Lana, heute hatten sie eine Chance auf ein bisschen Normalität.
Doch dann fiel sein Blick auf verblichenen rostbraunen Fleck auf dem Asphalt. Man konnte ihn mehr erahnen als ihn tatsächlich sehen. Aber Paul wusste natürlich, dass er da war. Er hatte sich in seine Pupillen eingebrannt und würde dort nie ausbleichen.
Lana wusste, dass er in seinem Kopf den Schrei hörte. Den Schrei, der ihn seit zwei Jahren fast jeden Tag und jede Nacht heimsuchte. Jener Schrei, nur eine, zwei Sekunden nach dem Aufprall, welcher Carls Leben nahm und seines noch dazu.
Das erste Treffen
Er war es. Kein Zweifel. Er war es. Er war der Richtige. Sie war sich ganz sicher. Nach anderthalb Jahren hatte sie die Gewissheit, dass er der Mann ihrer Träume, der Mann ihres Lebens war. Oder zumindest irgendwann sein würde. Vielleicht.
Am Anfang hatte sie ihm kaum Beachtung geschenkt. Zu flüchtig waren die Begegnungen gewesen. Sie hatten aneinander passiert, ohne dass etwas passiert war. Doch als sie realisierte, dass sich ihre Wege Tag aus, Tag ein kreuzten, interessierte sie sich mehr für ihn und schaute genauer hin. Und sie fand ihn spannend. Nein, seien wir ehrlich: Er schien attraktiv zu sein – so weit sie das beurteilen konnte. Sie waren sich im späten Herbst oder im frühen Winter das erste Mal begegnet. So genau wusste sie das nicht mehr. Aber da er – immer ganz dunkel gekleidet - warm eingepackt war, hatte sie nur die schwarze Brille, den stoppeligen Salt- und Pepper-fünf-Tage-Bart und die ganz leicht glasigen, aber durchaus anziehenden Augen wahrgenommen. Er schien groß und ziemlich sportlich gebaut zu sein, was seiner Attraktivität nicht wirklich schadete.
Im Laufe der Monate hatten sie angefangen, die Existenz des jeweils anderen durch ein freundliches Kopfnicken, manchmal sogar durch eine knappes „Morgen” anzuerkennen.
Und als er begann zu lächeln, fing sie Feuer. Zumindest löste es einen Schwelbrand in ihr aus. Sie wollte dieses Lächeln jeden Morgen sehen. Der Moment der flüchtigen Begegnung wurde zu ihrem Höhepunkt des Tages. Sie verzehrte sich immer mehr danach (sie tendierte zum Pathos in der Wort- und Gefühlswahl) und zehrte danach den ganzen Tag von dem kurzen Lächeln, das sie hatte erhaschen können.
Sie achtete penibel darauf, sich jeden Morgen zur selben Zeit auf den Weg zu machen, um ihm auf jeden Fall zu begegnen. Gelang ihr das, war sie danach bestens gelaunt und energievoll unterwegs. Verpasste sie ihn, war sie wechselweise schlecht gelaunt oder in Sorge, dass ihm etwas zugestoßen sein konnte. Erst beim nächsten “zufälligen Treffen” atmete sie wieder auf. Er lebte! Wenn alles nach Plan lief, begegneten sie sich immer an derselben Stelle. Er war offenbar ein zuverlässiger Mann mit Hang zur Routine oder positiver formuliert, er neigte zu Pünktlichkeit und Strukturiertheit. Das gefiel ihr. Auch, dass er ganzjährig bei Wind und Wetter, Hitze und Eiseskälte draußen unterwegs war, war eine wichtige Gemeinsamkeit. Er schien hartgesotten zu sein, aber sicherlich mit einem weichen Kern. Und nun nach anderthalb Jahren fühlte sie, dass es an der Zeit war, den nächsten Schritt zu machen. Sie musste ihrem unbekannten Traummann näherkommen.
Aber wie konnte man jemanden kennen lernen, der jeden Morgen mit 25km/h an einem vorbeisauste? Er mit dem Mountainbike, sie mit dem Rennrad. Das passte zwar nicht hundertprozentig zueinander, denn wie konnte man sich nur freiwillig so dicke Reifen antun? Aber Hauptsache Radfahrer. Wieder etwas, dass sie tief miteinander verband. Sie fühlte es einfach. Sie waren füreinander bestimmt.
Als sie an diesem Morgen losfuhr, konnte sie an nichts anderes denken. Sie wusste nicht viel über ihn. In den vergangenen Wochen hatte sie ihre morgendliche Abfahrtszeit ein wenig variiert, um ihn an unterschiedlichen Orten zu treffen und damit mehr über die Strecke zu erfahren, die er fuhr. Natürlich hatte sie nie riskiert, ihn nicht auf dem Radweg anzutreffen. Sie hatte trotzdem keine Ahnung, wo er wohnte, wohin er jeden Morgen unterwegs war. Von einem Namen und einer Adresse ganz zu schweigen. Gut, sie wusste auch nicht, ob er verheiratet oder sonst wie gebunden war. Jemandem bei der Geschwindigkeit genau auf die Finger zu schauen, war leider etwas schwierig. Also musste sie diesen nichtigen Aspekt einfach außer Acht lassen.
Was konnte sie tun, um ihn auf dem Radweg anzusprechen? Einfach sich auf eine Bank setzen und hoffen, dass er eine Vollbremsung machen würde, um sie anzusprechen, war ziemlich aussichtslos. Abgesehen davon, dass es wahrscheinlich nicht viele Menschen gab, die morgens um sieben bei fünf Grad im Halbdunkeln unverfänglich auf einer Bank saßen und dabei attraktiv statt einfach nur total verrückt wirkten. Sie könnte ihn auch abpassen und ihm dann heimlich folgen. Aber erstens war er vermutlich zu schnell für sie unterwegs, zweitens musste sie zur Arbeit und konnte nicht einfach stattdessen fremden Männern hinterherfahren und drittens war sie schließlich keine Stalkerin.
Sie radelte schneller, wie sie es immer tat, wenn sie angestrengt nachdachte. Ok, das Problem mit dem zu hohen Tempo könnte sie lösen. Dafür musste einfach ein E-Bike her. Aber war das nicht ehrenlos? Vielleicht verurteilte er auch Radfahren mit Strom. Er war schließlich klassisch analog unterwegs. Ein Mann mit Muskelkraft, Prinzipien und Traditionsbewusstsein, auch das liebte sie an ihm. Einen eingefleischten Stromlosfahrer mit einem E-Bike verfolgen? Ihre gemeinsame Zukunft wäre vermutlich vorbei, bevor sie wirklich Fahrt aufgenommen hatte. Also kein E-Bike. Das machte die Angelegenheit, wenn auch vielleicht nicht die Gelegenheit, etwas günstiger.
Vielleicht könnte sie eine Reifenpanne simulieren. Einfach aus einem Reifen die Luft lassen, an den Radweg stellen und hilflos schauen. Sicherlich würde er anhalten und seine Hilfe anbieten? Allerdings durfte er natürlich nicht sofort bemerken, dass der Reifen einfach nur platt war. Sie brauchte schon etwas Zeit, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln und dabei die ganze Klaviatur von hilflos (die Panne!) bis selbstbewusst (eine wetterfeste, rasante Frau auf dem Rennrad!) zu bespielen. Oha, das musste gut durchdacht werden. Ein klitzekleiner Fehler und alles war vorbei. Und was, wenn er nicht anhielt? Dann hatte sie nicht nur einen platten Reifen, sondern auch eine geplatzte Illusion. Das wollte sie nicht riskieren.
Sie wurde ein bisschen wütend, weil sich einfach keine probate Lösung anbot. So trat sie noch fester in die Pedale und schaute auf ihre Beine herunter. Sie liebte das Gefühl, wenn sie ihre Verärgerung und Frustration ungezügelt in Kraft und Geschwindigkeit umwandelte.
Sie musste eine Lösung finden. Sie konnte nicht später auf ihr Leben zurückblicken und wissen, dass sie an ihrem Glück vorbeigerast war. Und das nicht einmal, sondern mehrere Jahre lang jeden Morgen. Wie sollte sie das ihren ungeborenen Enkeln erklären?
Nein, sie musste handeln. Aber was konnte sie denn tun?
Sie trat noch heftiger in die Pedale und näherte sich einer scharfen Rechtskurve. Ihre Verzweiflung trieb ihre Beine immer weiter an.
Wie sollte sie ihn nur treffen?
Sie nahm die Kurve extrem eng und wurde dadurch weit hinausgetragen. Als sie aufschaute, wusste sie, wie sie ihn kennen lernen würde. Er schoss mit weit aufgerissenen Augen direkt auf sie zu und es war klar: das erste Treffen würde ein schmerzhaftes werden.
Von einem Moment
Melanie lief durch das Wohnzimmer und sammelte Spielsachen und Kleidung ein. Die kleinen Lederhausschuhe von Max, den Trainingsabzug von Pascal und das Kartenspiel von Anna. Die Socken von Christian ließ sich absichtlich liegen. Erziehungsmaßnahme. Immer und überall lagen diese herum. Sie hatte ihrem Mann schon so oft gebeten, sie im Flur in den Wäschekorb zu werfen. Lang genug hatte sie das übernommen, aber jetzt hatte sie keine Lust mehr darauf. Christian hatte viele tolle Seiten, aber seine Unordnung, seine Socken auf der Couch, auf dem Boden, auf dem Tisch nervten sie.
Heute war Melanie ohnehin etwas gestresst. In zwei Stunden mussten sie bei der Schwiegermutter auflaufen. Irmtraud war zwar eine Seele von Mensch, aber einer von der eher redseligen und anstrengenden Sorte, besonders seit ihr Mann Hubert vor zwei Jahren verstorben war. Christian hatte auch nicht wirklich Lust, seine Mutter zu besuchen, einmal im Monat mussten sie sich jedoch blicken lassen. Und heute war der Tag. Zur eigenen Nervenberuhigung hatte er sich noch eben für zwei Stunden aufs Rennrad geschwungen, während sie versuchte, die drei Kinder in Schach zu halten und noch etwas Ordnung ins Haus zu bringen. Anna saß in ihrem Zimmer und hing wie zumeist am Handy. Pascal und Max plantschten in der Badewanne. Der Kleine liebte Wasser über alles. Laut waren die wonnevollen Rufe von ihrem Jüngsten zu vernehmen. Aus ihrer Erfahrung wusste Melanie, dass das ein gutes Zeichen war. Wenn trügerische Stille herrschte, wurde es gefährlich. Wie letzte Woche, als sie keinen Mucks gehört hatte und dann schließlich feststellen musste, dass das Badezimmer unter Wasser stand. Es hatte sie einige Zeit und Mühe gekostet, alles wieder trocken zu bekommen.
Eigentlich wäre sie heute gerne für ein, zwei Stunden ins Fitnessstudio gegangen, aber Christian war schneller gewesen und hatte zuerst den Bedarf auf etwas Freizeit angemeldet. Da er sich gleich noch mit Anna hinsetzen würde, um für die Mathearbeit zu üben, hatte Melanie ihm dann auch den Vortritt gelassen. Mathematik üben mit dem Töchterlein war kein Vergnügen und es übernahm immer derjenige von ihnen beiden, der gerade über das bessere Nervenkostüm verfügte. Annas Mathelehrer hatte am Freitag die Klassenarbeit kurzfristig um drei Tage auf den kommenden Dienstag vorgezogen und damit ziemlichen Stress in der Familie ausgelöst. Nach dem gestrigen Üben hatten die Nerven bei Anna und Melanie blank gelegen. Gut, dass Christian heute mit ihr lernen wollte. Melanie war im Kopf bei dem digitalen Videokurs, den sie bis Ende der nächsten Woche fertigstellen musste. Zwar hatte sie noch die nächsten Vormittage Zeit dafür und die Auftragslage war im Moment auch etwas mau, aber sie hatte Ideen im Kopf, die sofort umgesetzt werden wollten.
„Anna, komm schon mal mit deinen Mathesachen runter. Papa kommt gleich.“
Keine Antwort. „Anna, Papa kommt gleich. Ihr habt nicht viel Zeit zum Lernen. Komm schon mal runter.“
Wieder keine Antwort. Dafür kam auf einmal Geschrei aus dem Badezimmer. Und dann weinte Max. Auch das noch!
Melanie lief schnell die Treppen hoch und riss die Tür zu Annas Zimmer auf.
„Anna, mach schon. Papa kommt jeden Moment zurück.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Melanie ins Badezimmer. Annas Gesicht hatte schon Bände gesprochen.
Max hielt sich den linken Arm.
„Mama, aua.“
„Was ist los, Pascal. Warum weint Max?“
„Hat sich wehgetan. Ist aber schon wieder gut, oder Max?“
Sein kleiner Bruder nickte tapfer. Melanie strich ihm liebevoll über den Kopf und gab ihm einen Kuss ins nasse Haar.
„In zehn Minuten müsst ihr raus.“
Sie verließ das Badezimmer wieder. Anna hing immer noch am Handy.
„Anna,…“
„Was?“
Wäre schön, wenn Christian jetzt endlich übernehmen würde, dachte Melanie. Dann könnte sie ein bisschen zur Ruhe kommen, bei einem Kaffee dem normalen Familienwahnsinn für einige Momente entkommen, vielleicht noch ein bisschen mit Gesine chatten oder mit dem Kleinen kuscheln.
Es klingelte an der Tür. Christian hatte wieder seinen Schlüssel vergessen.
„Anna, mach schon!“, ermahnte sie noch schnell ihre Tochter.
Melanie öffnete die Tür. „Irgendwann vergisst du auch…“
Vor ihr stand nicht ihr Ehemann, sondern eine uniformierte Polizistin und ihr Kollege.
Ihr wurde augenblicklich flau im Bauch. Aber vielleicht war nur etwas in der Nachbarschaft passiert.
„Sind Sie Frau Wagener?“
„Ja“, antwortete sie heiser. „Warum? Was ist..?“
„Mama, wo sind meine Mathesachen?“, rief Anna genervt von oben.
Melanie drehte sich um zum Treppenhaus.
„In deiner Schreibtischschublade vielleicht?“, krächzte sie.
„Können wir bitte hereinkommen?“
Melanie öffnete die Tür weiter und ließ sie herein.
Ihr wurde heiß und eng im Hals. Sie ging vor ins Wohnzimmer. Ihre Ohren sausten leicht.
„Worum geht es?“, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor.
Oben im Badezimmer hörte sie Max vor Freude krähen.
„Ich bin Polizeikommissarin Fischer und das ist mein Kollege Polizeioberkommissar Hartung. Möchten Sie sich vielleicht setzen?“
Melanie nahm mechanisch am Esstisch Platz.
„Frau Wagener, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihr Mann tödlich verunglückt ist. In der Rathgeber Straße, im Tunnel.“
Melanie blickte die Polizistin verständnislos an.
„Das ist nicht… Der ist doch für Fahrräder verbot…“. Sie brach ab. Hielt sich die rechte Hand vor den Mund. Schwieg einen Moment. Lauschte auf die Geräusche im Haus, die zu ihr durchdrangen. Oben stieg gerade jemand aus der Badewanne und Anna kam die Treppe hinunter.
Melanie schaute sich im Wohnzimmer um.
Sie sah Christians Socken auf der Couch liegen.
Und dann fing sie an, hysterisch zu schreien.
Falsch abgebogen
Das konnte nicht so weitergehen. Andrea sah an sich herunter. Der Blick auf ihre Füße sah anders aus als noch vor ein paar Monaten. Weniger Fuß, mehr Bauch. In den Spiegel wollte sie überhaupt nicht mehr schauen. Vor dem Anblick grauste es ihr regelrecht, denn fit und schlank hatte der Spiegel ihr schon länger nicht mehr zu bieten. Und zaubern konnte er nun mal nicht. Wo müde und erschöpft drin war, stand auch müde und erschöpft drauf.
Langsam ging Andrea hinüber zur Couch. Wann hatte sie eigentlich angefangen, bei allem, was mit leichter körperlicher Anstrengung zu tun hatte, zu ächzen? Beim Wäschesortieren, beim Einkaufstaschenauspacken, beim Anziehen… Wie eine alte Frau. Offenbar war sie beim „Sich-durch-das Leben-ächzen“ eine hochbegabte Frühentwicklerin. Leider schien das kein Talent zu sein, das im Leben irgendwie weiterhalf.
Andrea ließ sich auf die Couch plumpsen. Ihr war zum Heulen zumute, aber Tränen kamen schon lange keine mehr. Sie hatten den Dienst quittiert. Zu nutzlos, zu inadäquat waren sie gewesen.
„Warum hörst du eigentlich die ganze Zeit dieses alte Zeug?“
„Hmm, was? Andrea fuhr aus ihren Gedanken hoch. Klaus hatte das Wohnzimmer betreten, ohne dass sie ihn gehört hatte. Offenbar ächzte er sich noch nicht durch sein Leben.
Vor ein paar Tagen hatte Andrea sich selbst dabei ertappt, dass sie plötzlich nur noch Oldies aus den 60er Jahren hörte, bevorzugt Hits von den ikonischen Frauen der Epoche. Das Bedürfnis danach war einfach so über sie gekommen. Oh happy, happy days.
„Ich weiß nicht...“. Sie drehte sich langsam um, nachdenklich, eine wirklich plausible Erklärung suchend. Aber Klaus war schon wieder verschwunden. Typisch. Wortkarg war er schon immer gewesen. So weit, so erträglich. Aber tonkarg, das war verletzend für Andrea. Reden konnte und mochte vielleicht nicht jeder, aber zuhören, wenn man eine Frage gestellt hatte, das sollte schon zu erwarten sein.
Aber wann hatten sie einander das letzte Mal wirklich gehört und auch verstanden? Andreas Bedürfnis nach Liebe traf nur noch auf taube Ohren. Und wenn sie ehrlich war, dann war es umgekehrt nicht anders. Vielleicht war Klaus auf seine Art noch immer liebenswert, aber sie war einfach nicht mehr die Richtige für diese Liebe, für das, was Klaus noch geben konnte, geben wollte.
Irgendwann war sie im Leben falsch abgebogen. Sie wusste nicht, wann und auch nicht, wo. Aber die Richtung schien nicht mehr zu stimmen, sie war allein unterwegs und lost.
Aus Liebe zum Lesen war Andrea Buchhändlerin geworden. Und sie liebte Bücher immer noch, aber scheinbar gehörte sie damit zu einer wachsenden Minderheit. Sie hatte davon geträumt, fremden Menschen die tollsten Geschichten, die faszinierendsten Sachbücher schmackhaft zu machen. Aber längst war der Job nur noch fad. Kaum jemand wollte noch beraten werden. Die wenigen Menschen, die nicht Online kauften, kamen in den Laden, griffen fast wahllos nach einem aktuellen Erfolgstitel und waren wieder weg, bevor Andrea ihnen Appetit auf mehr, auf die wahren Buchdelikatessen machen konnte.
Sie hörte Greg durch den Flur schlurfen. Ein gutes Pferd sprang nur so hoch, wie es musste, und ein Teenager hob offenbar die Füße auch nur gerade so hoch, wie es nötig war, um nicht am Boden festzukleben.
„Greg?“
„Was?“ Solche Sprachkunst beherrschten nur junge Leute. Drei langgezogene Buchstaben, ein simples Fragewort, mehr nicht, und doch ein pures Statement des Unwillens, der Genervtheit und des Vorwurfes.
Andrea hörte die Haustür, die wie immer etwas zu laut und zu aggressiv zugezogen wurde. Weg war Greg. Aber Greg war ohnehin nie wirklich da. Er hatte sich schon vor vielen Jahren entfernt. Sie hatte um ihn gekämpft, um den familiären Zusammenhalt gerungen, aber Greg war schon als Zehnjähriger mental bei Ihnen ausgezogen. Er führte sein eigenes Leben. Eines, das sie nur erahnen konnte, und über das sie kaum etwas wusste und noch weniger Kontrolle hatte.
Andrea rang wieder mit den Tränen, die nicht kommen würden. Eine toxische Mischung aus Trauer, Hilflosigkeit und vor allem Defätismus erfasste sie. Nichts, aber auch gar nichts in ihrem Leben war so, wie sie es sich früher ausgemalte hatte. Totale Entfremdung mit dem Mann und dem Sohn, ein Beruf, der sich nicht mehr richtig anfühlte, vielleicht das auch nie getan hatte. Ein Körper, der mit ihr machte, was er wollte.
Es musste sich etwas ändern. Nein, nicht etwas, alles musste sich ändern. Und zwar sofort. Eine Welle der Tatkraft durchfuhr sie. Heute war der Tag, sie spürte es. Heute war der Wendepunkt. Gesünder würde sie von nun an leben. Meditation, Yoga machen, Superfoods essen. Sie würde mit Klaus Tacheles reden und Katharina anrufen, die sicherlich nach drei Scheidungen mit finanziellem Gewinn einen guten Scheidungsanwalt kannte. Sie würde Greg bitten, noch einmal eine gemeinsame Therapie mit ihr zu beginnen. Und sie würde kündigen und etwas anderes machen. Sie wusste nur noch nicht, was das sein könnte. Sie konnte nicht viel anderes außer Bücher gut finden. Vielleicht einen Blog verfassen oder noch verwegener: selbst Bücher schreiben, die bleischwer im Bücherregal neben den Bestsellern liegen würden. Falls sie es überhaupt bis in eine Buchhandlung schaffen würden.
Egal. Alles, alles würde sich ab jetzt ändern. Sie musste nur anfangen. Aufstehen, loslegen. So einfach war es. Zurück in die Spur kommen und dann diesmal richtig abbiegen.
Sie wollte sich aufschwingen, aber sie kam nicht vom Sofa hoch. Ihr Körper fühlte sich unendlich schwer an. Noch einmal gab sie sich einen Ruck. Vergeblich. Sie klebte an der Couch fest, versank gar noch tiefer ins Polster, schien es. Trotzdem machte sie einen erneuten Versuch. Nichts zu machen, sie kam nicht hoch.
Ok, vielleicht war das ein Zeichen, dass sie nichts Unüberlegtes tun sollte.
Sie könnte zum Friseur gehen und sich die Haare abschneiden und blondieren lassen. Klaus hatte ihr schon mehrfach zu der Frisur geraten. Das wäre mal etwas Neues, hatte er gemeint.
Ja, Friseur klang gut.
Andrea schwang sich auf.
Rocco
Rocco sprang auf. Er war im Einsatz. Endlich, nach zwei langen Stunden des Beobachtens, des Wartens, des Hoffens ging es los. Eigentlich wusste er schon seit mehr als einer Woche, dass er eine Mission hatte. Jeden Nachmittag hatte er ungeduldig auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Und jetzt war er gekommen.
Schnell lief er die Treppe hinunter, aus dem Haus, über die Straße. Auf dem Sand angekommen, verlangsamte er seinen Schritt. Sein Atem ging zu schnell und er musste sich dazu zwingen, wieder ruhiger zu werden. Sein Herz schlug so wild, als wollte es höchstpersönlich aus dem Körper hüpfen und sich um den die Aufgabe kümmern. Keine Frage, das hier war Roccos bisher größte und wichtigste Mission. Heute würde es eine Heldentat brauchen.
Er versicherte sich kurz, dass sein Cape richtig hing, seine Maske perfekt saß und auch der Düsenantrieb einsatzbereit war. Tagelang hatte seine Mama für ihn genäht und gebastelt, bis die Ausrüstung genauso wie die von Red Rocketman aussah. Der rote Raketenmann war sein Held. Geboren, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Einer, der sich nie fürchtete, der alles wusste, der alles konnte. Rocco wünschte sich fast nichts mehr, als so zu sein wie Red.
Auf Roccos rotem T-Shirt und dem Umhang prangte das große Doppel-R – Red Rocketman. Oder eben Rocco Rakete. Das war er.
Das Zielobjekt seiner Mission stand nur einige Meter von ihm entfernt. Unauffällig lugte er hinüber.
Er würde heute Superkräfte brauchen, das war klar. Ihm war etwas mulmig zumute, aber dann dachte er an seine vergangenen Heldentaten. Letzte Woche in der Schule hätten sie Vertretung mit der fürchterlichen Frau Grünwald haben sollen. Alle, aber wirklich alle Kinder hatten Angst vor ihr, selbst Timothée, der kaum kleiner als sie war. Frau Grünwald mit ihren gelben Zähnen, dem fiesen Blick und der lauten, ständig zeternden Stimme war der Schrecken der ganzen Schule und fehlte zudem auch nie. Aber er, Rocco, er hatte den Vertretungsunterricht mir ihr verhindert. Am Abend vorher hatte er all seine Supergedankenkraft zusammengenommen und sich gewünscht, dass Frau Grünwalds E-Bike auf dem Weg zur Schule so beschleunigen würde, dass sie am Schulgebäude vorbei und immer weiter sausen würde. Frau Hahnemann, die Schulleiterin, war in die 2b gekommen und hatte ihnen verkündet, dass Frau Grünwald leider verhindert wäre. Alle Kinder hatten erleichtert von einem Wunder gesprochen, aber Rocco Rakete wusste natürlich, dass es allein der Superkraft seiner Gedanken geschuldet war und die verhasste Lehrerin vermutlich gerade mit dem E-Bike hilflos Richtung Frankreich oder sogar Spanien brauste.
Vorsichtig schaute Rocco wieder auf das Ziel seiner heutigen Mission. Sein Magen verkrampfte vor Anspannung und Furcht und seine Entschlossenheit nahm sich eine kurze Verschnaufpause.
„Du willst das, du kannst das, du schaffst das“, flüsterte er sich aufmunternd Red Rocketmans Erfolgsmotto leise zu. „Rocco Rakete“, wiederholte er, „du willst das, du kannst das, du schaffst das.“
Heute würde es die Mutter allen Mutes brauchen. Einen Mut, noch verwegener, noch furchtloser, noch unerschrockener, als der, mit dem er sich vor ein paar Tagen dem dicken Paul entgegengestellt hatte, der ihm und seinem Freund Ben das Eis klauen wollte. Rocco hatte es ihm schon fast kampflos überlassen wollen, aber dann hatte er an Red Rocketman gedacht, der niemals, unter keinen noch so aussichtlosen Umständen seinem Erzfeind Dark Sword sein Blueberry Sundae herschenken würde.
„Nie im Leben bekommst du mein Eis, du übler Schurke“, hatte Rocco ausgerufen und sich vor dem zwei Köpfe größeren und mehr als doppelt so schweren Paul aufgebäumt. Dieser hatte ihn so verdutzt, ja verständnislos angeschaut, dass Rocco und Ben den Moment der Unachtsamkeit nutzen, ihm das Eis entreißen und damit die Flucht ergreifen konnten.
Aber alle diese Superheldentaten zählten heute nicht. Aus den Augenwinkeln beobachte er weiterhin seine bislang größte Herausforderung. Sie war groß, größer als er. Zierlich, aber doch kräftig.
Sie warf kurz einen Blick zu ihm herüber und er schaute natürlich sofort weg. Hoffentlich hatte sie ihn nicht ertappt. Das würde einen vielleicht nötigen plötzlichen Rückzug erschweren.
Er musste nun in die Offensive gehen. Rocco zählte langsam herunter.
Zehn, neun, acht. Er atmete tief ein und wieder aus.
Sieben. Sein Magen begann zu flattern.
Sechs, fünf. Luft holen, Rocco.
Vier, drei. Seine Hände waren nun ein bisschen klamm.
Zwei. Seine Spucke blieb plötzlich weg und sein Mund fühlte sich furchtbar trocken an.
Eins.
Go!
Er trat vor sie. Sie schien nicht überrascht oder erschrocken ob seines plötzlichen Auftauchens.
„Ha-ha-hallo“, stotterte er und fühlte, dass sein Gesicht sofort fürchterlich heiß und Red Rocketman-rot wurde. “Du siehst aus wie Ruby Rocketwoman. Wollen wir zusammen Mission spielen?“
Puh, es war raus.
Das Mädchen musterte seine Ausrüstung und schwieg.
Rocco wurde sehr warm unter seinem Cape und seiner Maske. Verdammt, Red schwitzte nie. Niemals. Wie schaffte er das bloß?
Und dann lächelte das Mädchen. Tatsächlich, es lächelte.
Roccos Anspannung löste sich und er erwiderte ihr Lächeln schüchtern.
„Klar, cool. Ich heiße Suza. Wie heißt du?“
Er hatte es gewollt, er hatte es gekonnt, er hatte es geschafft.
Er war Rocco Rakete, todesmutiger Superheld.
Das zehnte Rad
Er ging nicht gerne in den Keller. Nicht mehr. Wenn er von unten etwas dringend benötigte, schickte er seine Kinder. Seine Familie hatte längst akzeptiert, dass er den Ort mied. Verstanden hatte sie es jedoch nicht. Wie auch?
Aber heute zog es Felix in den Keller. Langsam stieg er die zwölf Stufen nach unten. Mit jedem Schritt näherte er sich seinem persönlichen Hades. Er öffnete die Tür und tastete zunächst vergeblich nach dem Lichtschalter. Als das Licht doch anging, schloss er intuitiv die Augen. Er musste sie eigentlich nicht öffnen, zu genau wusste er, was er sehen würde. Neun Rennräder standen oder hingen dort im Raum. Eines zu wenig. Zehn und seine Welt wäre noch in Ordnung. Felix atmete tief durch, bevor er sich doch traute, die Augen zu öffnen. Der Anblick schmerzte ihn. Dort standen seine Schätze, die ihn zusammen ein kleines Vermögen gekostet hatten. Weit mehr als das Auto, das in der Garage stand. Vom allerersten Rennrad, das er sich als Schüler von seinem gesparten Taschengeld gekauft hatte, bis hin zu dem extrem teuren Edelflitzer, den er nur sehr kurz gefahren war. Nur das alte schwarze Cannondale stand nicht mehr im Keller. Felix erinnerte sich an sein Glücksgefühl beim Kauf des ersten Rades. Wahrscheinlich hatte er so herumgezappelt wie Fabio, als er das Rennrad entgegennahm. Aufgeregt wie ein kleines Kind. Ein bisschen naiv, voller Drang, dem Geschwindigkeitsrausch, der Sucht nach der Freiheit auf zwei Rädern zu erliegen.
Zärtlich strich Felix über den Sattel seines Bianchis. Dort hatte sich eine dicke Staubschicht gebildet, wie auch auf anderen Teilen des Rades. Die Kette war eingetrocknet. Die Reifen waren platt und trugen ebenfalls zu dem traurigen Anblick des Rades bei. Felix sah sich die anderen Räder an und erkannte, dass diese nicht minder vernachlässigt wirkten. Fünf Jahre im Keller waren eine lange Zeit. Josy hatte ihn immer wieder gefragt, warum er die Räder nicht verkaufen wollte, wenn er doch nicht mehr damit fuhr. Aber das konnte er ihr nicht erklären. Wie sollte sie verstehen, warum er nicht mehr fahren mochte, nein, nicht mehr zu fahren vermochte und dennoch kein Rad verkaufen konnte.
Fünf Jahre. Felix erinnerte sich noch genau an den Samstag vor fünf Jahren. Am Nachmittag hatte Fabio ihn auf seine Anzeige hin kontaktiert. Er wollte das Rad kaufen und sofort abholen. Dafür musste er den Zug aus der Nachbarstadt nehmen. Felix war etwas knapp mit der Zeit gewesen, weil er am frühen Abend Fußball schauen wollte, und hatte angeboten, mit dem Rad zum Bahnhof zu fahren und es dort zu übergeben.
Mit dem Anbruch der Dunkelheit war er dort angekommen. Fabio war einige Minuten später am Treffpunkt erschienen. Ein junger Mann, der ihn fröhlich grüßte, und sichtlich aufgeregt war. Das alte Cannondale Rennrad, das Felix inseriert hatte, sollte sein erstes Rad werden. Offenbar hatte der Käufer viel Enthusiasmus, aber wenig Ahnung von Rennrädern und Felix musste ihm noch erklären, wie man schaltet. Er bezahlte die 300 Euro in bar und Felix spürte, dass dies ein gehöriger Batzen Geld war, den Fabio dort aus der Hand gab.
Inzwischen war es dunkel geworden. Das Fahrrad hatte keine Beleuchtung und Felix riet Fabio, den Zug zurückzunehmen. Der Strecke am Fluss war aufgrund des Hochwassers gesperrt und damit führte der zwanzig Kilometer lange Rückweg zunächst einmal eine unangenehme Steigung in absoluter Dunkelheit hoch - eine Straße, die Felix selbst im Hellen und als erfahrener Radler nicht gerne hochfuhr. Für den Rennradanfänger Fabio würde sie eine noch größere Herausforderung darstellen.
Doch der junge Mann wollte kein Geld für ein Fahrrad-Zusatzticket ausgeben, wollte sein neues Rennrad ausprobieren, wollte einfach nicht auf Felix hören, der ihm die Zugfahrt nachdrücklich empfahl.
In seinem Rucksack hatte Felix ein recht teures Beleuchtungsset. Er überlegte, ob er es Fabio mitgeben sollte. Geld hatte dieser vermutlich keines mehr dafür, aber schenken wollte er es ihm auch nicht. Während er noch zögerte, schwang sich Fabio auf das Rad, winkte ihm zu und verschwand in der Dunkelheit.
Schwarze Jeans, schwarze Jacke, schwarze Haare, schwarzes Cannondale-Rad. Und darauf ein unbekümmerter Jungspund. Auch fünf Jahre später sah Felix dieses Bild immer noch vor sich. Er hatte noch eine Minute dort verharrt, dann war er Fabio hinterhergerannt, hatte ihm nachgerufen. Aber der junge Mann war schon von der Dunkelheit geschluckt worden.
Felix lief nach Hause, schaute das Fußballspiel, freute sich über den Sieg seiner Mannschaft. Die Sirenen des Krankenwagens hatte er nicht gehört. Am nächsten Morgen wurde im Lokalradio von einem schlimmen Unfall berichtet. Ein junger Fahrradfahrer war in der Dunkelheit überfahren worden und noch am Unfallort seinen Verletzungen erlegen. Die Polizei nahm das Geschehen zum Anlass, auf die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung und die Pflicht zur Beleuchtung auch an Rennrädern hinzuweisen. Felix nahm es zum Anlass, nie wieder auf ein Rennrad zu steigen.
Lebenslänglich
Sechs Jahre war es nun schon nicht mehr frei. Sechs lange, zunehmend qualvolle Jahre. Eine zermürbend lange Zeit, und doch lächerlich kurz, weil es genau wusste, dass lebenslänglich sein Los war.
Es gab kein Entkommen. Sicherlich würde es bessere und schlechte Tage geben. Es war immer leichter Positivität vorzugaukeln als die eigene Traurigkeit zu erklären. Aber am Ende des Tages würde es immer noch gefangen sein. Ohne Aussicht zu entkommen. Ohne Hoffnung, eines Tages wieder frei zu sein. Schon jetzt wusste es nicht mehr, wie es sich angefühlt hatte, frei zu sein. Die Erinnerung daran war längst verdrängt, aussortiert, und hatte den Glauben an Befreiung gleich mit sich genommen. Das Gefühl, nicht zu wissen, was noch passieren würde, aber zu ahnen, dass sich die Lage nicht verbessern, sondern nur verschlechtern konnte, war unerträglich.
Die Enge setzte ihm zu. Diese bedrückende, jeglichen Atem raubende Enge, die keinen Spielraum ließ, die ihm das Gefühl gab, in diesem Leben, an diesem Leben zu ersticken. Und gleichzeitig war da eine fürchterliche Leere, die alles Sinnstiftende, Lebensfreude Versprühende verschluckte. Wie konnte man sich gleichzeitig so voll und doch so leer fühlen?
Tagsüber hörte es die Stimmen der Aufrührer, die nie Ruhe gaben, nie Ruhe ließen. Es waren fast immer dieselben. Ab und zu schienen auch neue Rädelsführer hinzugekommen zu sein. Sie brachten ihm neue Aufruhr, neue Gedanken, neue Ängste und Sorgen. Nachts hoffte es vergeblich auf Erlösung. Die eigenen Dämonen, die am Tag genährt wurden, lösten Panik aus, raubten ihm den Schlaf. Sechs lange Jahre der Unfreiheit gingen einher mit ebenso vielen Jahren der Müdigkeit, der Erschöpfung. Krawall ohne Ende kostete Kraft ohne Ende.
Es sehnte sich nach Ruhe. Stillstand. Und doch konnte es nicht anders, als nach Bewegung zu dürsten. Eine diffuse Kraft trieb es gnadenlos immer weiter, über jede Grenze bis in die Betäubung, bis in den Schmerz, bis in noch größere Erschöpfung. Aber es fühlte sich besser an, den Schmerz selbst zu hervorzurufen, als ihm machtlos ausgeliefert zu sein. Es war ein verzweifelter Versuch, Kontrolle zu erlangen, wo kaum Kontrolle möglich war. Nicht mehr als ein lächerlicher Fluchtversuch in der Tretmühle der eigenen Existenz. Gefangen war gefangen.
Manchmal hatte es den Wunsch, einen schnellen Ausweg zu finden, sich der Gefangenschaft für immer und endgültig zu entziehen, ein letztes Mal frei zu entscheiden. Es spielte mit dem Gedanken, verwarf ihn, holte ihn wieder hervor, aber letztendlich war es nicht mutig genug oder nicht ausreichend feige, zu stark oder doch zu schwach dafür. Wer konnte das schon genau beurteilen?
Und so würde es weiterleben. Gefangen, getrieben. Ein Spielball der Ängste und Sorgen, hoffnungslos der Enge, dem Krawall ausgeliefert.
Es, das Gehirn.
Coco
Sie musste los. Länger konnte sie den Moment nicht mehr herauszögern. Ansonsten würde sie zu spät kommen. Und dann würden erst recht alle sie anstarren. Sie musste den Moment genau abpassen.
Aber vorher griff Nadia noch einmal in ihren Rucksack, ganz tief hinein, um sich zu vergewissern, dass er da war. Natürlich war er da. Ohne ihn wäre sie überhaupt nicht aus dem Haus gegangen. Er fühlte sich leicht feucht an. Zu gerne würde sie jetzt an ihm riechen. Aber das ging nicht. Nicht hier.
Langsam stand das Mädchen auf. Kraftlos fühlte es sich, machtlos gegen den Rucksack, der es zentnerschwer wieder auf die Bank drücken wollte. Nadia wusste, dass nicht der Rucksack sie in die Knie zwang, sondern dass ihr Herz einfach zu schwer war.
Tapfer ging sie die ersten Schritte auf dem Schulhof, den Blick nach unten gesenkt. Es fühlte sich an diesem Augustmorgen an, als würde sie sich durch ihren ganz eigenen tiefen Morast im stürmischen Gegenwind bewegen müssen, jeder Schritt eine Anstrengung jenseits ihrer Kraft und Stärke.
Die meisten Schülerinnen und Schüler waren schon im Gebäude. Nur einzelne Mädchen und Jungen schlenderten noch auf den Eingang zu, ohne Nadia Beachtung zu schenken. Sicherlich war in den Korridoren jetzt die Hölle los. Mädchen und Jungen, die sich lauthals begrüßten nach den Sommerferien. High Fives, Handshakes, Umarmungen… das volle Programm. Eines, an dem sie unter normalen Umständen genauso fröhlich teilgenommen hätte.
Nadia hatte den Eingang erreicht. Jetzt wurde es hart. Knüppelhart. Es kostete sie viel Kraft, die Tür zu öffnen und noch mehr auch hindurchzugehen. Der Trubel in den Gängen nahm ihr augenblicklich die Luft zum Atmen. Nein, sie konnte das heute nicht. Ihr wurde schwindlig und sie spürte, dass sie wieder weinen würde. Nicht vor den anderen heulen, ermahnte sie sich. Auf gar keinen Fall. Das würde nur alles noch schlimmer machen.
Sie brauchte Coco jetzt ganz dringend. Hastig stürzte sie in die Mädchentoilette. Gott sei Dank stand niemand an den Waschbecken. Nadia schloss sich in einer Kabine ein und ließ den Tränen freien Lauf.
Wie hatte sie ihr das nur antun können? Einfach gehen, sie allein lassen, im Stich lassen, wenn sie sie doch so sehr brauchte?
Nadia griff in ihren Rucksack und kramte darin herum. Da war er. Vorsichtig zog sie ihn heraus und schaute ihn zärtlich an.
Coco war etwas zerdrückt, aber sonst wie immer. Klamm fühlte sich das abgewetzte Fell an. Kein Wunder, so viel wie sie in den letzten Wochen geweint hatte. Sie streichelte die Stellen, die ihre Mutter genäht hatte. Die Nähte an den Füßen, wo das Fell längst ausgefallen war, die Stelle am Bauch, an der sie ein Stück Stoff eingesetzt hatte, weil der Originalflausch nicht mehr zu flicken gewesen war. Und die Nase, die sie ihm neu gestickt hatte. Abgeliebt, durchgeknuddelt, hatte ihre Mutter mit einem Lächeln gemeint. Aber sie hatte Coco gerettet. Wie so oft, seitdem sie ihn für Nadia zur Geburt genäht hatte. Immer hatte Mama ihn wiedergefunden, wenn Nadia ihn irgendwo - auf dem Wühltisch, am Strand, auf der Toilette oder sonstwo - verloren hatte. Nicht umsonst hatte sie Coco ihre Telefonnummer und die Nachricht „Ich möchte nach Hause zu Nadia“ auf ein Halsband geschrieben. Und Coco, ja Coco, war immer wieder zu Nadia zurückgekommen. Er ließ sie nicht allein, egal wie es um ihn oder sie stand.
Nadia küsste die beiden Augen ihres Teddybären. Das eine war schwarz und leicht abgescheuert, das andere – etwas größer und noch fast neu – schien leicht blau. Ihre Mama hatte kein anderes Glasauge mehr gehabt und sie war schon zu schwach gewesen, um in die Stadt zu fahren und noch ein schöneres im Bastelbedarf zu kaufen.
Coco schaute sie mit seinen beiden Knopfaugen an. Nadia presste ihn an ihr Gesicht. Er roch nach Mama, nach ihrem Parfüm. Vielleicht hatte sie ihn absichtlich damit beträufelt? Er roch so gut nach ihrer Mama wie nichts anderes, das sie zurückgelassen hatte. Und Coco mit all seinen Nähten und Flicken lächelte, ein wenig schief aufgrund der neuen Nase und des anderen Auges. Aber er lächelte.
Nadia stand auf und drückte Coco noch einmal an sich. Vorsichtig verstaute sie ihn wieder ganz unten in ihrem Rucksack.
Dann wischte sie sich ihre Tränen mit dem Ärmel ihres T-Shirts ab und machte sich auf den Weg ins Klassenzimmer.
Bao Bao am Morgen
Ihre Zunge brannte, es kribbelte, prickelte überall in ihrem Mund. Business as usual, seit sechs, sieben Jahren. Leider war das der einzige Bereich ihres Körpers, der schon on fire war. Sie horchte in sich hinein. Die Muskeln schmerzten. Auch nichts Neues. Im Oberkörper, im Nacken, in den Beinen, in den Armen, im Gesicht. Bis hinein in die Finger. Shit! Das war kein gutes Zeichen, wenn selbst dort die Muskeln meinten, mitschmerzen zu müssen. Es zeigte, dass sieben verdammt harte Stunden hinter ihr lagen. Sieben Stunden des krampfhaften Versuches, Schlaf zu finden, oder zumindest etwas, das man tagsüber dafür würde halten können. Ein wenig Ruhe, etwas Abschalten, statt sich ständig hin und her zu wälzen, immer mit den Schmerzen ringend, die jedes Umdrehen von links nach rechts und rechts nach links bedeutete. Auf dem Bauch oder auf dem Rücken liegend konnte sie schon lange nicht mehr schlafen. Too painful schon nach kurzer Zeit. Ihre Muskulatur konnte so eine Bitch sein. Jeden Morgen gab sie ihr das Gefühl, am Vortag einen Marathon gelaufen zu sein. Einfach so, ohne auch nur einen Meter gerannt zu sein.
Es war Zeit aufzustehen. Das fühlte sie. Jahre des nächtlichen Herumliegens, des ständigen Aufwachens, wenn sich doch einmal Schlaf eingestellt hatte, hatten sie zur Expertin für Nachtzeit gemacht. Manchmal konnte sie mitten in der Nacht die Uhrzeit fast minutengenau vorhersagen, bevor sie auf dem Wecker nachschaute. Schade, dass es keine Late-Night Show gab, in der man mit dieser Fähigkeit reich werden konnte.
5:13 Uhr, 2 Minuten noch, bis der Wecker an ihrem Handy klingeln würde. Sie schloss die Augen noch einmal, drehte sich langsam auf die linke Seite. Ihr Rücken fühlte sich steif wie ein Brett an. Sorry, keine Chance, sich einfach aufzurichten. Sie stellte den Wecker ab, machte das Licht an und rührte sich erst einmal nicht mehr. Ihre Müdigkeit war so schwer, so tief in jede Faser ihres Körpers eingedrungen, dass sie sich schon lange das morgendliche Gähnen abgewöhnt hatte. Gähnen war etwas für Menschen, die mal ab und zu etwas wenig geschlafen hatten. Professionelle Nichtschläfer hielten sich nicht mit solchen offensichtlichen und unbedeutenden Anzeichen der Müdigkeit auf. Müdigkeit war ohnehin nur Erschöpfung für Anfänger. Außerdem kostete es einfach zu viel Energie, herzhaft zu gähnen. Kraft, die woanders am Tag gebraucht wurde. Warum genau sollte sie sich jetzt aus dem Bett quälen? Ach ja, Arbeit. Wie sollte sie die nur heute schaffen? Sie malte sich aus, wie es wäre, einfach liegen zu bleiben, sich krankzumelden. Ein kleiner, depressiver Desperado-Gedanke, den sie sich selten erlaubte. Denn mit welcher Begründung sollte sie fernbleiben? Heute war ein Tag wie fast jeder andere auch. Ok, die Finger hatten ihre Finger mit im Schmerzspiel. Das taten sie nicht immer. Aber ansonsten, pain und fatigue as usual. So what?
Sie rollte sich über die linke Seite ab, so weit, dass die Füße auf dem Boden aufsetzten, dann schob sie den Körper etwas nach und zog sich am Bücherregal, das neben dem Bett stand, hoch, bis sie halbwegs stand. Tatata, die erste Runde gegen ihren Körper ging an sie. Und Aufstehen war mehr als nur die erste Runde. Aufstehen war the big challenge, der game changer für den Tag. Alles andere danach war nur noch ein Muskelspiel zwischen ihr und ihrem Körper. Shit, sie hatte vergessen, ihre Brille und ihr Handy zu greifen, bevor sie sich aufgerichtet hatte. Jetzt musste sie sich wieder etwas bücken, um beides vom Nachttisch zu nehmen. Punktabzug in der B-Note. Schmerzhaft und wenig elegant, aber machbar. Immerhin.
Langsam ging sie, nein, eierte sie los Richtung Treppe. Ein Zombie in Zeitlupe, jeder Muskel des Körpers durfte sich offenbar selbst entscheiden, ob er schon halbwegs funktionieren oder noch eine ganze Weile sich auf seine schmerzhafte Steifheit versteifen wollte. Sie wankte unkoordiniert die Treppe herunter, hielt sich gut fest, um die letzten Meter nicht kopfüber zu beschleunigen. Ihre Kleidung für den Tag lag optimistisch schon auf der ersten Etage bereit, aber ihr wundersames Muskel-Fasziengeflecht, aka ihr Pain Deluxe-Körper sagte ein klares Nö. So viel Elastizität und Geschmeidigkeit am frühen Morgen waren einfach nicht drin. Frühkörperliche Überforderung. Not possible. Das Anziehen musste warten. Vielleicht ging etwas in einer halben Stunde oder notfalls auch erst kurz vor ihrer Abfahrt, wenn einige der Boss-Muskeln ihr „Go ahead“ gaben. Bisher war sie doch immer angezogen zur Arbeit gekommen. Es bestand also Hoffnung, auch für diesen Tag.
Unten angekommen bemerkte sie erst, dass ihre Weltsicht heute besonders beschränkt war. Warum sollten die Augenmuskeln sich auch gegen den Trend im ganzen Körper verhalten? The trend is your friend. As if. The panda is your friend, schon eher. Ihre Augen waren mit Wohlwollen betrachtet stark verquollen, die Welt wirkte verschwommen, unscharf, gräulich. La vie en gris. Da half auch kein Reiben. Verwundertes Augenreiben am Morgen hatte sie sich ohnehin schon lange abgewöhnt. Wo keine Illusion, da kein Reiben. As easy as that.
Mechanisch machte sie sich Frühstück. Gott sei Dank war alles dafür in der Küche vorhanden und sie musste nicht in den Keller hinabsteigen, den Hades für das Nightmare-Team aus chronischem Muskelhartspann und tiefgreifender Antriebsschwäche.
Nach einer großzügigen Dosis Magnesium und einer noch optimistischeren Menge Tee – grüner und Guarana – sie ließ schließlich nichts unversucht, um dem unwilligen Körper Arme und Beine zu machen, war es an der Zeit für einen Body Scan: das Fazit fiel kurz und knapp aus. Aua, aua und ah-ooha.
Was sollte bloß aus einem Tag werden, den sie so anfing, wie er für die meisten Menschen aufhörte, nämlich körperlich und mental am Ende? Sie mahnte sich, sich jetzt endlich zusammenzureißen und Haltung annehmen. Zwar ein bisschen krumm und schief im Rücken, aber besser so als gar keine Haltung. Also los.
Halt, stopp, langsam Graue. Fürs morgendliche Duschen fehlte ihr noch die Motorik und 250.000 Unfälle jedes Jahr in deutschen Badezimmern waren ihr Warnung genug. Bad luck für alle olfaktorisch Hochsensiblen in ihrer Umgebung. Also gab es nur das Kurzpflichtprogramm im häuslichen Gefahrenherd.
Ihr Blick fiel auf die Schmutzwäsche, die schon über den Rand des Wäschekorbes quoll. Seit Tagen fand sie keinen Antrieb, sich darum zu kümmern. Nach der Arbeit war sie zu erschöpft, so wurde aus dem Wäscheberg ein unbezwingbarer, ständig wachsender und zunehmend stressender Mount Everest. Also, besser Augen zu und weg, wie immer.
Ihr Plan war es, sich jetzt schnell anzuziehen, bevor die Antriebslosigkeit ansteckend um sich griff. Die Oberteile meisterte sie mehr oder weniger problemlos, wenn man denn Schmerz und Erschöpfung beim Heben der Arme für den Pullover als normal betrachten mochte.
Sie konnte zwar manchmal dank ihrer Ungeduld schnell aus der Hose springen, hinein ging es mangels ausgefeilten Gleichgewichtssinns und aufgrund eingeschränkter Geschmeidigkeit aber immer bedeutend langsamer und risikobehafteter. Bis zu den Knöcheln kam sie unfallfrei, aber dann schwankte sie mit der Hose auf Fußhöhe erst ein bisschen nach rechts, dann ein bisschen nach links, fing sich fast, geriet dabei aber in Vorwärtslage und krachte schließlich ins Treppengeländer. Sway with me, ihre Nummer eins auf der Playlist am Morgen.
What a start into the day! Nun schmerzte auch noch die Aufprallstelle. Ihr war zum Heulen zumute. Sie fühlte sich mit der Hose auf halb zwei und den dicksten Augenringen seit Bao Bao wie ein ungeschickter, tapsender Steif(f)-Pandabär. Sie schaute an sich herunter und dann musste sie plötzlich lachen. Komm, Bao Bao! Sie richtete sich mühevoll auf. Lieber sich krumm und schief lachen, als sich steif und starr dem Schicksal zu ergeben, ermunterte sie sich. Wer zuletzt lacht, ist trotzdem nicht am Ende. Zumindest nicht heute. Und sich schon Sorgen wegen morgen zu machen, dafür fehlte ihr nun wirklich der Antrieb.
Ausgescheckt
Er stand auf, zögerlich, unsicher, ob er es riskieren sollte. Nein, entschied er, und vermied den Gang ins Badezimmer. Eigentlich gehörte die Dusche am morgen zu einer Routine, von der er nie abwich. Wenn er das Haus verließ, um arbeiten zu gehen, Freunde zu treffen, einkaufen zu essen – was auch immer – war er immer frisch geduscht, durchgestylt und dressed to kill. Ein Ich, das Perfektion ausstrahlte, aus jeder Pore ausströmte, bereit, jeden und alles zu erobern. Elroy war sich dieser Wirkung bewusst, aber er setzte sie nicht bewusst sein, wie er fand. Sie war einfach da.
Im Flur fiel Elroys Blick auf die gerahmten Zeitschriftencover, die seine Agentur ihm zum 30. Geburtstag geschenkt hatte. Dass er es auf die Titelseite von Gents@Style geschafft hatte, war sicherlich das Highlight seiner Modelkarriere gewesen. In drei Monaten sollte er erneut ein großes Cover zieren, aber tief im Innersten wusste er, dass es so weit nicht kommen würde. Elroy öffnete seinen Kleiderschrank und zog die Kleidung heraus, die er für den Tag vorgesehen hatte. Seit einiger Zeit modelte er nur noch im Anzug oder in Jeans und T-Shirt, mit langen Hosenbeinen und eben solchen Ärmeln. Er hatte seinem Agenten nicht anvertrauen können, warum er keine Badekleidung mehr promoten wollte, Gott sei Dank, hatte es auch so genug Angebote gegeben. Aber das würde nun bald vorbei sein.
Elroy setzte sich hin, zog seine Schlafanzughose aus und schaute auf seine Beine. Der Anblick traf ihn immer noch mitten ins Herz. Schnell schlüpfte er in die Anzughose, zog die Strümpfe und Schuhe über seine unansehnlichen Füße. Er entledigte sich seines Pyjamaoberteils und musste schlucken. Es kam den Händen immer näher. Wer weiß, wie viel Zeit er noch hatte. Einen großen Modelauftrag, zwei? Bald würde es für ihn vorbei sein. Aber er selbst konnte bestimmen, wann es ganz zu Ende war. Das gab ihm zumindest ein winziges Gefühl der Kontrolle.
Elroy strich über seine Arme. Erst ganz leicht, dann immer fester, nachdrücklicher, aggressiver. Dabei wusste er doch, dass dies nichts nutzen würde. Es ließ sich schließlich nicht ausradieren. Er war gebrandmarkt. Unwiderruflich. Unheilbar. Schnell knöpfte er das Hemd zu, das er für den Tag ausgesucht hatte. Es war so dunkel wie alle Kleidung, die er nun bevorzugt trug. Elroy stand auf, schaute an sich herunter, ein großer dunkler Mann, reduziert auf seine Angst vor der Weißheit.
Jetzt konnte er den Moment, den er jeden Morgen so fürchtete, nicht länger hinauszögern. Er musste vor den Spiegel treten, um seine Haare, sein Markenzeichen, zu stylen. Jedes Haar hatte perfekt zu liegen, dafür ging er alle drei-vier Tag zum Friseur, ließ sich sein Haar nachschneiden und seinen Bart trimmen. Wie immer sah er sofort den weißen Fleck mitten im Haar, auf der linken Seite seiner Schädeldecke. Kritisch beäugte er ihn. War er größer geworden? Vielleicht, ganz sicher war er sich nicht. Die tischtennisballgroße lokale Weißfärbung hatten seine Auftraggeber hingenommen, mitten in seinem stoppelkurzen, pechschwarzen Haupthaar wirkte der Flecken fast ein wenig verspielt, zudem exotisch und geheimnisvoll. Richtig nachfragen, warum er diese weißen Haare hatte, wollte offenbar niemand. So viel Glück würde er bei den anderen Stellen seines Körpers aber nicht haben. Elroy trug das Haargel auf, massierte es ein, richtete, choreographierte beinahe jedes einzelne Haar, bis es perfekt saß. Zufrieden drehte er den Kopf leicht nach links, dann nach rechts und hob das Kinn dabei leicht an.
Und dann sah er ihn, den hellen Fleck. Im rechten Mundwinkel, nach oben laufend, ungefähr so groß wie ein Fünfcentstück, eigentlich nicht zu übersehen. Eben war er ihm nicht aufgefallen, doch je länger er dorthin starrte, desto enormer wurde die weiße Fläche, die er ausmachte.
Was sollte er mit dem neuen Fleck machen? Mit Make up wegzaubern und so tun, als gäbe es ihn nicht? Die Augen schließen und ihn wegwünschen? Vor Wut wegschreien und vor Verzweiflung wegweinen? Wegschmirgeln, bis die Haut blutete? Jeglicher Versuch, den Makel in seinem Gesicht wieder loszuwerden, würde zwecklos bleiben. Sein Körper hatte den Beweis dafür schon weiß auf schwarz. Der Befall seines Gesichtes hatte begonnen und würde nun raumgreifend voranschreiten. Die Hände waren auch nur noch eine Frage der Zeit. Einer sehr kurzen Zeit.
So weit würde Elroy es nicht kommen lassen. Er zückte sein Handy, lächelte routiniert und schoss ein letztes Selfie voller scheinbarer Perfektion. Nachdem er es mit dem lapidaren Kommentar “Ausgescheckt“ in seinen Status hochgeladen hatte, holte er den Brief, den er schon vor einiger Zeit für diesen Moment in seinem Leben verfasst hatte. Er lehnte ihn an den Spiegel im Badezimmer, stellte sein Handy mit dem Selfie daneben und verließ mit einem letzten Blick auf das Cover von Gents@Style seine Wohnung.
Wer sich für die Weißfleckenkrankheit (Vitiligo) interessiert, findet hier z.B. Informationen:
Wichtelkind
Mit hochrotem Kopf, die Mütze tief ins Gesicht gezogen fingerte Ole nach dem Schlüssel. Joschi lag schwer in seinen Armen, aber ihn auf dem schneebedeckten, kalten Boden ablegen, wollte er auf keinen Fall. Nur klingeln wollte er noch weniger.
Er streichelte ihn mit seinem durchnässten Fäustling, flüsterte ein „Alles wird gut“ und wünschte, der Hund würde ihm dasselbe versichern.
Er tastete seine Tasche erneut nach dem Haustürschlüssel ab, wurde fündig und klemmte seine Hand unter Joschi kurz ein, um den Handschuh abziehen zu können. Mit seinen eiskalten Fingern zog er den Schlüssel aus der Jackentasche.
„Psst“, hauchte er verschwörerisch zu Joschi, bevor er leise die Tür öffnete. Sein Plan war es, sofort in sein Zimmer zu gehen, ohne von irgendjemanden gesehen zu werden. Und schon gar nicht angesprochen zu werden. Seine Mutter würde ihn später ausschimpfen, wie so oft, wofür auch immer. Aber das war später.
Er musste sich sofort um Joschi kümmern. Sich seine verletzte Pfote ansehen, ihn trösten, Er war doch sein Freund.
Im Flur standen vier Paar Schuhe. Vier. Das hieß Chris und Danny waren beide zuhause.
Jetzt hatte er es noch eiliger, unbemerkt in sein Zimmer zu kommen. Er sah Joschi flehentlich an, damit er nicht laut winselte oder jaulte, wenn sie zusammen leise am Wohnzimmer vorbei schlichen. Ole hörte seinen Bruder Danny im Wohnzimmer reden. Wie immer eine Spur zu laut, zu sehr von sich überzeugt. Sein Vater jedoch lachte dröhnend auf. Er hörte jemanden applaudieren. Das musste seine Mutter sein. Sie war von allem entzückt, was sein älterer Bruder, der angehende Schauspieler, zum Besten gab.
Ole drückte Joschi etwas fester an sich, spürte die wohltuende Wärme des Hundeatems auf seiner kalten Hand. Er zog den Kopf ein, so als wollte er sich hinter dem Terrier verstecken. Nicht sehen, nicht gesehen werden. Nicht gesehen werden, nicht reden.
„Nisse, bist du das?“
Ole zuckte zusammen. Er hasste es, dass Chris ihn immer bei seinem zweiten Vornamen rief.
„Hey, Hemm-Nisse, was geht?“ Die Stimme kam von oben. Sein ältester Bruder war offenbar nicht bei den anderen im Wohnzimmer.
„Ey, erkenne ich da einen nervenden Nissenbefall?“
Es war schon schlimm genug, dass alle Kinder in der Schule ihn damit aufzogen. Beim letzten Kopfläusevorfall in seiner Klasse – der war erst knapp zwei Wochen her – war jeder Schultag zum Spießrutenlauf geworden. Sein blöder Bruder machte sich ständig und schon seit vielen Jahren über seinen Vornamen lustig.
„Ey, du Wicht, was ist los. Redest du nicht mit mir?“ Der Tonfall hatte sich nun von spöttisch zu leicht aggressiv geändert.
Ole verweilte ratlos nahe der Wohnzimmertür. Er hing dort fest. Was war jetzt schlimmer? Dem Spott und den Attacken seines Bruders ausgeliefert zu sein oder die Schimpftirade seiner Mutter über sich ergehen zu lassen?
Flehentlich blickte er Joschi in die Augen. Bitte sag du mir, was ich tun soll, wollte er ihm gerne zuflüstern. Im Wohnzimmer redete Danny offenbar weiter. Ole schnappte einzelne Wörter auf: Bühne…spielt… Schweden…zwei Wichtel…heißen Tomte und Nisse. Nisse? Ole war verwundert, seinen Namen zu hören. Das weckte seine Neugier und er drückte sich ganz nah an die Tür heran.
„Oh, und ein kleiner Fun Fact. Wusstet ihr eigentlich, dass Wichtel manchmal ihre eigenen Kinder gegen fremde Bälger austauschen? Die lassen einfach einen kleinen Wichtel da und nehmen das menschliche Kind mit. Aber wenn der Wichtel durch irgendeinen Quatsch zum Lachen gebracht wird, kommen die Wichtel und holen ihr Blag wieder zurück.“
Ole wusste nicht, warum Danny das seinen Eltern erzählte. Und er verstand auch nicht alles, was er mitangehört hatte. Das klang, als wäre es aus einem Drehbuch oder einem Märchen. Aber irgendetwas in seinem Körper schlug trotzdem plötzlich an. Er wich unwillkürlich von der Tür zurück, drückte Joschi voller Zärtlichkeit an sich. Unvermittelt huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er hatte es immer geahnt. Irgendwie gefühlt. Eigentlich war es so klar.
Und aus seinem Lächeln wurde ein Lachen, erst ganz vorsichtig, ganz leise und zögerlich, wie von jemanden, der dazu nie eine liebevolle Gebrauchsanleitung bekommen hatte. Aber dann wurde es lauter und unzweifelhaft ein Lachen.
Rosas Baum
Rosa tastete ihre Hosentasche ab, obwohl sie wusste, dass ihr Geld nicht reichen würde. Genau 6,03 € waren drin. Sie hatte es mehrfach abgezählt. Nie im Leben würde sie dafür einen Baum bekommen.
Trotzdem lief sie weiter über das Gelände des Weihnachtsbaumverkaufs. Sie hatte nur noch wenige Minuten, bevor der Handel schloss. Und nur eine Stunde, bis ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kommen würde.
Der Händler begann schon die provisorische Beleuchtung an den Zäunen auszuschalten. Zwischendurch schaute er immer wieder zu Rosa herüber, vielleicht erstaunt, dass ein so junges Mädchen sich ohne erwachsene Begleitung auf seinem Gelände aufhielt.
Rosa suchte weiter. An Heiligabend waren nur noch wenige Bäume übrig, große zumeist. So hoch, dass sie vielleicht nicht einmal in ein normales Zimmer passten. Und sie brauchte eine kleine Tanne, eine ganz kleine, die in die beengte Zweizimmerwohnung, die sie mit ihrer Mutter teilte, und vor allem aber auch zu ihrem Geld passte.
Was passierte eigentlich mit all den Bäumen, die nicht verkauft wurden, überlegte Rosa. Der Gedanke, dass all diese abgeholzten Bäume ihr Zuhause verloren hatten und auch für die Feiertage kein neues finden würden, bekümmerte sie irgendwie.
Rosa spürte, dass der Händler sie nun fragend, ja drängender anschaute. Jetzt war der Moment gekommen, an dem sie all ihren Mut zusammennehmen musste.
„Ich brauche noch einen Baum, einen ganz kleinen“, sprach sie, mehr vor sich hin als in Richtung des Händlers. Er reagierte nicht.
Rosa hob ihre Stimme ein wenig: „Haben Sie noch einen Baum für 6,03 €?“
Jetzt erst bemerkte der Mann, dass sie mit ihm sprach.
„Was?“
„Einen Baum möchte ich kaufen. Ich habe 6,03 €.“
Der Händler lachte auf. „Dafür gibt es hier keinen Baum. Sind alle teurer. Und für das bisschen Geld hättest du auch vor zwei, drei Wochen keinen bekommen. Da kriegste nicht einmal einen künstlichen für.“
Rosa schluckte, obwohl sie geahnt hatte, dass ihr Geld nicht reichen würde. Mehrere Wochen lang hatte sie ihr ohnehin sehr kärgliches Taschengeld gespart. Wenn die anderen Kinder sich nach der Schule eine große gemischte Tüte geleistet hatten, hatte sie eisern verzichtet. Die Mini- Lichterkette und die zehn kleinen Kugeln, die sie schon gekauft hatte, hatten schon knapp drei Euro verschlungen. Dazu waren noch zwei Euro für die Pralinen gekommen, die sie ihrer Mutter zu Weihnachten schenken wollte. Ein bisschen Geld hatte sie dazu verdient, weil sie im Park leere Flaschen aufgelesen hatte.
Rosa spürte, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie drehte sich langsam um und lief in Richtung Ausgang.
Wochenlang hatte sie sich vorgestellt, wie ihre Mutter am Heiligabend, müde von der Arbeit, von der Enge, vom Alleinsein, von allem, was ihr Leben ausmachte, den Weihnachtsbaum sehen würde, sie voller Glücksgefühle in den Arm nähme und für einige Stunden Weihnachten tatsächlich ein Fest der Liebe und der Familie wäre. Ihr Traum war gerade geplatzt, nach all den Wochen der Anstrengung und der Entbehrung.
„Warte“, rief der Händler hinter ihr. „Ich habe doch einen Baum für dich.“
Rosa blieb stehen und wandte sich um.
„Ja?“, fragte sie zögerlich und ihre Stimme versagte dabei fast. „Wo denn?“
Der Verkäufer lief um eine kleine Hütte herum und holte einen Baum im Netz hervor. „Hier,“ er hielt ihn ihr hin.
„Den kannst du für fünf Euro haben. Der ist so krumm und komisch gewachsen, den konnte ich überhaupt nicht anbieten.“
Rosa konnte ihr Glück nicht fassen. Schnell kramte sie in der Hosentasche das Geld hervor, bevor der Händler es sich anders überlegen konnte. Sie drückte ihm die Münzen in die Hand, ergriff dem Baum und verschwand mit einem schnellen „Danke“.
Die Tanne war größer als sie selbst, vielleicht einen Meter zwanzig hoch oder mehr, so genau konnte sie das nicht schätzen. Er war recht schwer und es tat ein bisschen weh, ihn ohne Handschuhe zu tragen und zu ziehen. Aber das spielte alles keine Rolle, dachte sie glücklich. Sie hatte ihren Baum. Jetzt gab es doch ein richtiges Weihnachten zuhause.
Rosa schleppte den Baum zwei Etagen hoch. Rasch öffnete sie die Tür zur Wohnung. Ein Blick auf den Wecker an der Couch sagte ihr, dass ihre Mutter in weniger als einer halben Stunde kommen würde.
Rosa war so stolz auf ihren Baum. Sie holte die kleinen Weihnachtskugeln und die Lichterkette unter der Couch hervor, die sie vor ein paar Tagen gekauft hatte. In der Schule hatte sie Sterne gebastelt und in ihrer Schultasche versteckt gehalten, damit ihre Mutter sie nicht finden konnte.
Jetzt konnte das fast Schmücken beginnen. Sie musste nur noch den Baum aufstellen. Weil sie keinen Christbaumständer besaßen und weit davon entfernt waren, sich einen leisten zu können, hatte sie einen Tipp befolgt, den ihr eine alte Frau beim Kauf der Dekoration gegeben hatte. Sie wollte ihren Putzeimer mit Sand füllen – dafür hatte sie dreimal die 400 Meter zum Spielplatz zurücklegen müssen, weil jede einzelne Ladung in der Plastiktüte so schwer gewesen war. Jetzt stellte sie den Baum in der Mitte des Eimers auf eine Sandschicht und füllte dann rechts und links mit Sand auf, bis er fest stand.
Rosa spürte eine Welle des Glücks durch ihren kleinen Körper schwappen. Ihr erstes richtiges Weihnachtsfest, mit einem Baum, den sie gekauft hatte. Sie war selig, so gespannt auf den Blick ihrer Mutter, wenn sie die Wohnung betreten und den feierlichen Baum sehen würde.
Das Mädchen holte eine Schere aus der Schublade und schnitt das Netz auf. Der Baum faltete sich sofort aus, wie befreit von seinen Zwängen, und Rosa sah sofort, was der Verkäufer gemeint hatte. Der Baumstamm war wirklich krumm, fast konnte man meinen, er hätte eine kleine Kurve einbauen wollen. Unterhalb der Spitze hatte er rundherum eine kahle Stelle, so als hätte er sich entschieden, eine Etage auszulassen. Weiter unten war er dagegen auf der einen Seite äußerst dicht bewachsen, vielleicht um den Minderwuchs oben auszugleichen, während auf der anderen Seite einzelne Äste weit hervorstachen. Beim Auspacken nadelte der Baum schon so sehr, dass Rosa sofort das Kehrblech holte, um den Boden davon zu befreien.
Das Mädchen schluckte, doch dann packte es die Lichterkette aus, um sie auf dem Baum zu drapieren. Die Kette war nur einen Meter lang, kleine LEDs mit dünnem Draht verbunden, und schaffte es kaum den Baum einmal zu umrunden. Rosas Glücksgefühl wich langsam der Enttäuschung. Sie nahm die zehn kleinen roten Kugeln und verteile diese möglichst gleichmäßig auf dem Baum, sie kamen ihr jedoch schrecklich verloren und vereinzelt vor. Auch ihre Sterne, die sie gebastelt hatte, schafften es nicht, eine festliche Dekoration entstehen zu lassen. Der Baum blieb beklagenswert ärmlich und karg.
Jetzt konnte sie ihre Enttäuschung nicht mehr bändigen. Tränen schossen Rosa in die Augen, so als wären ihre geplatzten Träume literweise mit Tränenflüssigkeit gefüllt gewesen. Die ganze Ungerechtigkeit ihres jungen Lebens hatte die Schleusen weit geöffnet. Und es gab kein Halten mehr. Sie weinte und weinte, auf dem Boden vor dem traurigen Baum liegend.
„Rosa, was ist los?“
Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass seine Mutter nach Hause gekommen war.
Rosa drehte sich zu ihr, wollte sprechen, aber es gelang ihr nicht, Worte zu formen, die sich gegen die Flut der Tränen hätten durchsetzen können.
„Wo kommt der Baum her? Und der Schmuck“, fragte ihre Mutter überrascht. Sie sah wie immer schrecklich müde aus, aber etwas schimmerte in ihren Augen. So als wären dort feine Tränen der Freude, die sich aber nicht wirklich heraustrauten, weil das Leben viel zu rau war für solche Sentimentalitäten.
Rosa vermochte immer noch nicht zu reden.
„Hast du das alles besorgt?“
Rosa nickte und musste gleich wieder schluchzen.
„Ganz allein?“
Ihre Mutter nahm sie in den Arm, streichelte ihr das Gesicht und schaute ihr dann in die Augen: „Das ist der liebevollste Weihnachtsbaum, den ich je gesehen habe, mein wunderbares Christkind. Ich könnte mir keinen besseren für uns vorstellen.“
Nach Bremen
Noch fünf Kilometer. Diesmal. Diesmal, würde Sie es wagen. Einfach rechts abbiegen. Richtung Bremen. Und dann immer weiter. Bis nach Bremen. Diesmal.
Rechts und links flog die Nacht an ihr vorbei. Schnell war sie unterwegs. Ein bisschen zu schnell für jemanden, der müde war. Und vor allem für jemanden, der Zeit brauchte, um den ganzen Mut zusammen zu nehmen.
Es war wieder spät geworden in Bochum. Bis in die Nacht hatte sie gequatscht mit ihrer Freundin Jasmin. Eigentlich hatte sie schon früher nach Hause fahren wollen. Zurück zu Mann und Kind, die beide bestimmt schon gemeinsam im großen Ehebett lagen und schliefen. Aber dann war sie doch noch länger geblieben. Hatte den Moment der Heimkehr herausgezögert. Und jetzt war es schon wieder weit nach Mitternacht.
Nur noch vier Kilometer bis zur A1. Richtung Bremen. Oder nach Hause Richtung Wuppertal. Diesmal würde es Bremen werden. Diesmal würde sie alle ihren Mut zusammen nehmen und rechts abbiegen. Aber so oft hatte sie das schon gedacht. Nachts, ganz allein auf der Autobahn, wenn die Welt ganz anders aussah. Sich ganz anders anfühlte. Ganz andere Möglichkeiten bot. Und dann war sie doch immer wieder geradeaus gefahren. Geradeaus. Nach Hause, geradewegs zurück zu ihrer Familie.
Ihr Körper spannte unmerklich an. Die Kiefermuskeln fingen wieder an zu schmerzen. Ihre Atmung wurde lauter, schwerer. Noch drei Kilometer. Sie versuchte sich auszumalen, wie sie durch die Nacht nach Bremen fuhr. Allein im Auto. Sich mit jedem Kilometer von zuhause entfernend. Von allen Zwängen, den Überforderungen, dem Sich-Verbiegen, Sich-Verleugnen. Ganz bei sich. In drei Stunden könnte sie dort sein. Aber wo war eigentlich „dort“? Sie hatte keine Ahnung, wo sie morgens um fünf unterkommen sollte in Bremen. Oder zu irgendeiner anderen Zeit. Schließlich kannte sie niemanden in Bremen. War noch nie dort gewesen in den vier Jahrzehnten ihres Lebens. Sie musste ein Hotel finden. Besser noch eine kleine Pension.
Noch zwei Kilometer bis zum Autobahnkreuz. 2000 Meter bis zur Entscheidung. Eine Minute noch bis zur Befreiung. Ihre Ohren fingen leicht zu rauschen an. Der Puls ging schneller, ihr Mund wurde trocken. Eine fürchterliche Schwere überkam sie. Jetzt bloß nicht an die Familie denken. Nicht an Malin und Michael denken. Aber sie sah ihre geliebte kleine Tochter vor sich. Hörte sie fröhlich vor sich hinplappern. Fühlte Malins Umarmung, die ihr fast die Luft nahm. Wann würde Michael merken, dass sie nicht nach Hause gekommen war? Er würde sich sofort Sorgen machen, sie anrufen. Sie war immer so zuverlässig. Etwas musste passiert sein, würde er denken. Ohne zu ahnen, was wirklich geschehen war. Dass sie einfach weggefahren war. Nach Bremen, wo niemand sie kannte und keine Menschenseele etwas von ihr wollte.
Noch fünfhundert Meter. Gleich würde sie… Noch dreihundert Meter. Sie setzte den Blinker, aber wechselte nicht die Spur. Sie atmete jetzt hastig und laut. Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Eine tropfte herunter, lief über ihr rechtes Auge. Für einen kurzen Moment konnte sie nicht klar schauen. Noch hundert Meter. Jetzt! Das Schild „Bremen“ verschwamm vor ihren Augen.
Und dann sah sie auf einmal wieder klar. Sie schaute auf und auf dem Schild über ihr stand „Wuppertal“.
Die linke Tür
Der Gang wollte kein Ende nehmen. Weiß war er, rechts und links von ihr, vor ihr. Alles war weiß. Sie ging weiter und hatte zunehmend das Gefühl, sich durch Watte fortzubewegen. Die bleierne Müdigkeit, die sie in den letzten Minuten erfasst hatte, tat ihr Übriges. Jeder Schritt fiel ihr schwer. Und doch überkam sie auf einmal ein Gefühl der Unruhe, der Panik gar. Sie wusste nicht, wo sie war, wohin sie unterwegs war. Seltsamerweise beschleunigte die Ungewissheit ihren Schritt und doch blieb ihr Vorankommen mühsam und schwerfällig.
Unvermittelt sah sie andere Menschen vor sich am Ende des Ganges. Sie atmete erleichtert auf. Sie war nicht allein. Der Gang wurde breiter und je näher sie den Menschen kam, desto deutlich wurde ihr, dass sie eine Schlange gebildet hatte. Die Frau verlangsamte kurz ihren Schritt, blieb beinahe stehen, beobachte für einen Augenblock die Fremden, ohne sich erklären zu können, was diese Menschen in diesem seltsamen Gang zusammenbrachte. Aber dann setzte sie weiter Fuß vor Fuß, mechanisch, als würde sie an einem unsichtbaren Faden gezogen und könnte sie sich der Sogwirkung des seltsamen Treibens in dem Gang nicht entziehen. Als sie nur noch wenige Meter von den anderen Menschen entfernt war, wurde ihr erst bewusst, wie gespenstisch leise es in diesem Tunnel war. Selbst ihre nun immer hastigeren Schritte schienen geräuschlos zu sein.
Sie stellte sich an das Ende einer Schlange, unsicher, warum die Menschen dort warteten. Neugierig musterte sie die Fremden vor ihr. Sie sah Männer und Frauen, sogar ein paar Kinder. Vor ihr wartete ein Mann, einige Jahre älter als sie. In der Hoffnung, der Mann würde sich zu ihr umdrehen, räusperte sie sich leise, auch für sie selbst fast unmerklich. Es war, als würde dieser Gang jegliches Geräusch schlucken. Nichts geschah. Auch nicht, als die Menschen vor ihr aufrückten. Der Wartende vor ihm hielt seinen Blick weiterhin nach vorne gerichtet.
Entmutigt durch ihren erfolglosen Versuch der Kontaktaufnahme wartete sie mit den anderen in der Schlange. Langsam, ganz langsam rückten sie immer weiter vor. Bis sie vorne zwei Türen erkennen konnte. Die Türen sahen unscheinbar aus. Genauso weiß wie alles um sie herum. Doch davor stand ein Wächter, der mit unergründbarer Miene Gespräche mit dem jeweils Vordersten in der Schlange führte. Gerade sprach er mit einem Mädchen, kaum sechs Jahre alt. Sie redeten einige Minuten mit gedämpfter Stimme und man sah, dass das Kind immer wieder eifrig nickte, lächelte, von einem Bein auf das andere sprang. Schließlich lief auch dem Wächter ein Lächeln über das Gesicht. Er drehte sich um, öffnete die rechte Tür und deutete dem Mädchen mit einer Handbewegung an, durch die Tür zu gehen. Fröhlich hüpfte die Kleine hindurch und verschwand dahinter im Nichts.
Eine Person nach der anderen sprach mit dem Wächter. Die meisten verließen den Gang danach durch die rechte Tür, einige wenige nahmen die andere. Die gespenstische Stille wurde dadurch jedoch nicht gebrochen. Selbst als der Mann direkt vor ihr schließlich vom Hüter der zwei Türen angesprochen wurde, drang kein Laut zu ihr vor. Auch er trat durch die rechte Tür. Was dahinter lag, konnte die Frau nicht erkennen.
Jetzt war sie an der Reihe. Sie schaute den Wächter an, angstvoll, weil sie nicht wusste, wo sie war. Warum sie dort war. Und was es mit den Türen und dem Hüter auf sich hatte.
Dieser musterte sie einen Moment lang. Dann sprach er: „Du bist vor einer Sekunde gestorben und schwebst nun in einem Stadium zwischen Leben und Tod, oder besser zwischen Tod und Leben. Alle frisch Gestorbenen kommen hierhin. Ich bin hier, um zu entscheiden, ob du zurück ins Leben geschickt wirst oder…“
Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. Tod? Sie? Weshalb? Was war ihr passiert? Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie gewesen war. Was sie gemacht hatte.
„Oder…?“, brachte sie hervor.
„Oder du gehst endgültig durch die linke Tür.“
Also waren die meisten durch die rechte Tür zurück in ihr Leben geschickt worden.
„Geht das? So einfach zurück?“
„Ja“, erklärte der Wächter, ohne irgendeine Regung zu zeigen, „wenn du gerade erst gestorben bist und noch niemand deine Leiche gefunden hat.“
Sie konnte sich immer noch nicht erinnern, wie sie gestorben war. Oder wo. Aber sie hatte eine gute Chance, dass sie bisher niemand gefunden hatte, dachte sie und spürte dabei eine seltsame Verbitterung.
„Ich werde dir nun einige Fragen stellen und du wirst sie wahrheitsgemäß beantworten. Danach werde ich entscheiden, durch welche Tür du gehen darfst.“
Sie nickte ihm zaghaft zu, um ihre Bereitschaft zu signalisieren.
„Wann hast du das letzte Mal herzhaft gelacht?
Wann sie das letzte Mal herzhaft gelacht hatte? Was war das denn für eine Frage? Und die sollte entscheiden, durch welche Tür sie gehen konnte?
Der Wächter nickte ihr auffordernd zu. Also, sie hatte vor Kurzem einen Film gesehen. Irgendetwas mit diesem amerikanischen Komiker, den sie ganz witzig fand. Und da hatte sie ab und an schmunzeln müssen. Sie wollte gerade ihre Antwort geben, doch irgendwie kam ihr diese zu lahm vor. Aber sie konnte sich gerade auch an keine andere Gelegenheit erinnern, in der sie herzhaft gelacht hatte. Wo denn auch? Sie arbeite allein, von zuhause aus, und ausgehen, das war nicht ihr Ding. Mit wem sollte sie auch abends weggehen?
Sie zuckte unmerklich die Achseln.
„Wann hast du das letzte Mal geweint?“
Was sollte sie mit dieser Frage anfangen? Musste man weinen, um eine zweite Chance zu bekommen? Sie war nicht der Typ, der weinte, nicht, wenn ihr etwas wehtat, nicht bei irgendwelchen Schnulzen, die im Fernsehen liefen. Selbst nach dem Tod seiner Eltern hatte sie nicht geweint. Damals am Grab waren ihre Augen trockengeblieben. Sie musste schließlich stark sein. Für ihre Eltern, die es nicht gewollt hätten, sie in Tränen aufgelöst an ihrem Grab stehen zu sehen. Sie hatte ihre Trauer im Griff gehabt, so wie sie immer alles im Griff hatte. Auch nachdem Jens sie verlassen hatte vor ein paar Jahren.
„Ich weine eigentlich nicht“, flüsterte sie, ohne dem Wächter in die Augen zu schauen.
Ohne eine Regung stellte der Hüter der Türen ihr die nächste Frage.
„Wann warst du das letzte Mal für etwas dankbar?“
Das war eine leichte Frage. Sie bedankte sich immer für alles. Sie atmete auf. Gerettet! Ihre Mutter hatte sie so erzogen. Jens hatte sie gerne damit aufgezogen. Sie wäre die fleischgewordene Danksagung, hatte er ihr Spaß vorgeworfen. Jedenfalls glaubte sie, dass er es humorvoll gemeint hatte.
„Ich bedanke mich immer für alles.“
Der Wächter schien einen winzig kleinen Moment zu zögern, als würde er noch auf eine andere Erklärung warten, doch dann fuhr er fort:
„Wann hast du das letzte Mal Liebe gespürt?“
Sie zuckte. Ein Unbehagen machte sich in ihr breit. „Hat das kleine Mädchen dieselben Fragen bekommen?“
„Ja“, antworte der Wächter kurzangebunden.
„Waren sie nicht zu schwer für so ein kleines Kind?“
„Nein“, kam es zurück. „Keineswegs.“
Was meinte er mit „gespürt“? Ob sie für jemanden Liebe empfunden hatte? Oder ob ihr jemand dieses Gefühl entgegengebracht hatte? Sie setzte dazu an, dem Wächter diese Fragen zu stellen, aber sie wusste, dass dieser stumm bleiben würde. So wie sie selbst auch. Denn sie wusste nicht, was sie hätte sagen sollen. Sonst hätte ihr doch eigentlich sofort eine Antwort in den Sinn kommen müssen. Oder ein geliebter Mensch.
Resigniert schwieg sie und musterte den weißen Boden. Aber da war nichts zu sehen, rein gar nichts. Es vergingen einige Sekunden. Dann schaute sie auf zum Wächter.
Dieser wies ihr mit einer kaum vernehmbaren Kopfbewegung den Weg zur linken Tür.
„Ich kann leider nichts für dich tun!"
Sie schaute ihn fragend an. Setzte dazu an, ihm zu widersprechen. Aber dann fügte sie sich. Der Hüter der Türen wandte sich um und öffnete ihr die linke Tür. Unaufdringlich und doch bestimmt.
Sie schluckte, nickte unmerklich und als sie schließlich durch die Türe trat, fühlte sie, wie ihre Augen feucht wurden.
Endlich frei
Erst dachte ich, ich würde mich täuschen. Konnte das wirklich sein? Nach dieser halben Ewigkeit? Ich verharrte ganz still und horchte in die Stille. Tatsächlich, ich vernahm diffuse Geräusche, die ich nicht wirklich zuordnen konnte.
Ich rutsche ein wenig in der Dunkelheit hin und her und stieß dabei immer wieder an die Grenzen meines Gefängnisses. Nach all den Jahren in der engen Finsternis wusste ich gar nicht, wie mir geschah.
Wie lange war ich jetzt hier? Waren Monate oder gar Jahre vergangen, seit die alte Frau mich weggesperrt hatte? War es überhaupt die alte Frau gewesen? Oder doch eher der junge Mann, bei dem ich einmal gelebt hatte? Oder vielleicht der nette Junge, der mich doch eigentlich enthusiastisch gefeiert hatte, als ich zu ihm kam. Der sich so wundervolle Dinge ausgemalt hatte, die er mit mir würde unternehmen können. Manchmal litt ich unter dem enormen Tempo der Veränderung meiner Lebensumstände, die sich nicht selten mehrfach am Tag ergeben konnte. Wie sollte man dabei zur Ruhe kommen, seine Orientierung behalten, sein Selbstwertgefühl nicht verlieren? Aber die jahrelange Gefangenschaft in der absoluten Dunkelheit empfand ich als noch schlimmer. Ich hatte mich nun so lange nutzlos gefühlt. Es war höchste Zeit, dass ich endlich wieder dienen, jemanden glücklich machen konnte.
Die Stimme wurde nun lauter. Was sie sagte, drang nicht zu mir durch. Und trotzdem wusste ich, dass der Moment meiner Befreiung nahte. Die Stimme klang nicht nach alter Frau, sondern deutlich jünger. Sehr jung sogar. Wie damals in meiner glücklichsten Zeit bei dem kleinen Mädchen, das mich angebetet hatte. Jeden Abend hatte sie mir von ihren geheimnisvollsten Wünschen, ihren abenteuerlichsten Plänen erzählt. Und ich hatte darin immer eine Haupttrolle gespielt. War das Mädchen zurückgekehrt, um mich zu sich zu holen?
„Lass uns nachschauen“, vernahm ich auf einmal deutlich von außerhalb meines Gefängnisses.
Wunderbare Dinge würden sich in meinem Leben nun ergeben. Wie viel Zeit mir noch bleiben würde, bis ich den Kreislauf meines aufregenden Lebens würde verlassen müssen, konnte ich nur ahnen. Das würde auch damit zusammenhängen, wie gut ich die Monate oder Jahre der Dunkelheit verkraftet hatte. Aber für den Augenblick fühlte ich mich lebendig und bereit, viele weitere Abenteuer zu bestehen und dabei die unterschiedlichsten Menschen kennen zu lernen. Einmal hatte ich sogar im Ausland gelebt. In Belgien. Nur kurz, aber trotzdem war es eine aufregende Erfahrung gewesen. Bis dieser Hippie, bei dem ich untergekommen war, mich zurückgelassen hatte, um ein Leben in den Bergen Kolumbiens zu führen. Alles, was er besaß, hatte er weggegeben. Auch mich.
„Ich bin schon so gespannt. Süße“, hörte ich eine zweite Stimme. Deutlich älter als die erste war sie. „Mama hat immer so geheimnisvoll getan.“
Ich frohlockte. Das Geheimnis würde bald gelüftet werden und ich wieder frei sein.
„Auf drei, ok?“
Ich hielt den Atem an. Endlich hatten die Jahre der Gefangenschaft ein Ende. Gleich, gleich, würde mein Leben wieder Sinn machen.
„Eins, zwei…“
Jetzt! Ich bereitete mich innerlich darauf vor, nach all den Jahren in der Finsternis wieder Licht zu sehen. Hallelujah!
„Drei!“
Urplötzlich wurde es hell. Frische Luft umwehte mich. Freiheit! Ich wartete darauf, die unbändige Freude zu vernehmen, die das junge Mädchen und die ältere Frau bei meinem Anblick empfinden mussten.
Doch es herrschte Stille. Absolute Stille. Ich wartete noch einige Sekunden, aber nichts geschah. Ich spürte Überraschung, aber keine Freude bei den zwei Unbekannten.
Und dann sprach die ältere Stimme: „Süße, das ist ein alter Hundertmark-Schein. Der ist nichts mehr wert. Die Mark gibt es schon ewig nicht mehr. Weiß nicht, warum Oma den so lange aufbewahrt hat. Aber wir können ihn bestimmt noch umtauschen.“
Introitus
Er ging den langen, weißen Gang hinunter. Müde, in seinen Gedanken noch bei der Anreise quer durch England und der anschließenden Nacht, die zu kurz gewesen war, um seine zunehmende Erschöpfung zu kaschieren.
Mehr als vier Wochen Sprachkurse in England lagen bereits hinter ihm, ebenso viele Wochen noch vor ihm. Jetzt also Exeter. Südengland, bevor es nach Colchester, nein, erst in den Norden nach Schottland und dann zurück nach Colchester in den Osten der britischen Insel ging. Wer hatte sich beim British Council für sein Stipendium eine solch wilde Tour ausgedacht?
Er schaute auf die Nummern der Räume. Die 17, sein Unterrichtsraum für den Vormittag, musste gleich kommen. Er lief an der 15 vorbei und dachte daran, dass er gleich wieder neue Menschen kennen lernen würde. Menschen aus aller Welt, die wie er gekommen waren, um ihr Englisch zu verbessern und in die britische Kultur einzutauchen. Die Aussicht darauf elektrisierte und ermüdete ihn zugleich. An diesem Morgen überwog jedoch Zweiteres. Der tiefen Intensivität des Austausches tat immer die Halbwertzeit dieser Beziehung einen Abbruch. Zwei Wochen Vertrautheit folgte… nichts. Aus den Augen, aus dem Sinn.
- Ein bisschen wehmütig dachte er an sein Zuhause. Seine Familie, seinen besten Freund, den er zwei Monate nicht sehen würde. Diese Vertrautheit fehlte ihm inmitten der vielen neuen Bekanntschaften, die er im Zwei-Wochen-Takt schloss.
Die 17. Er blickte um die Ecke in den Raum. Zehn Stühle an drei großen, langen Tischen, aber noch niemand, der daran saß. Ein neuer Schwall der Müdigkeit überkam ihn.
Seufzend setzte er den Fuß über die Schwelle, als er plötzlich ein entferntes Geräusch vernahm. Leise zuerst, kaum vernehmbar. Vielleicht hatte er sich auch getäuscht? Er blieb unvermittelt stehen und lauschte angestrengter. Tatsächlich, es war nun deutlicher zu vernehmen, weil es immer mehr anschwoll. Es, das war der Klang von… Ihm fuhr eine Welle der Wärme durch den Körper. Musik, da kam Musik aus einem der anderen Räume. Mechanisch drehte er sich um und folgte den fernen Tönen. Wie an einer feinen Saite gezogen lief er den Gang entlang. Sein Herz beschleunigte sich in der Frequenz seiner zügiger werdenden Schritte. Seit vier Wochen hatte er keine Musik, die er doch brauchte wie andere das tägliche Brot, mehr gehört. Seine Gitarre hatte er nicht mitnehmen können, auch sein Kassettenrekorder keinen Platz im arg begrenzten Fluggepäck gefunden. Konnte man ausgehungert sein nach dem feinen Klang klassischer Instrumente?
Die Musik war mit jedem Schritt, den er machte, immer deutlicher zu vernehmen. Mozart, das Requiem. Introitus, so hieß der Auftakt in die berühmte, sagenumwobene Totenmesse, die ihm gerade neue Energie, gar neues Leben einhauchte.
Wer hörte morgens um kurz vor neun in einem der Räume das Requiem? Zu der Beschwingtheit, die er trotz der Ernsthaftigkeit des Musikstückes in jeder Faser seines Körpers spürte, gesellte sich nun auch eine Neugierde, die ihn in Richtung der Blechbläserklänge des Introitus trieb. Sie mussten aus dem letzten Raum im Gang kommen.
Zwei Schritte noch, dann würde er diesen erreichen. Er blieb einen Moment stehen und verharrte. Unwillkürlich schloss er die Augen, atmete sanft und sog die letzten Töne der Eröffnung ein. Mit dem einsetzenden „Kyrie“ betrat er den Raum.
Dieser war fast leer. Auf dem Tisch stand ein großer CD-Player, aus dem die Klänge des Requiems kamen. Auf der Fensterbank saß eine Frau, die aus dem Fenster blickte. Ihr Augen waren verschlossen. Sie lauschte der Musik, scheinbar mit jeder Faser ihres Körpers. Ihr Atmen war kaum zu vernehmen. Sie schien ihn zuerst nicht zu bemerken, doch dann öffnete sie die Augen und drehte den Kopf langsam zu ihm. Sie schaute ihn an, lächelte ihm schüchtern zu.
Er blickte zurück, geradewegs in ihre Augen, und wusste, dass die Halbwertzeit dieser Bekanntschaft die üblichen zwei Wochen weit übertreffen würde.
Lila Biene
„Mama, warum soll der die lila Biene holen?“
Noch eine halbe Stunde bis zum Termin.
„Mama, warum soll der die lila Biene holen?“
Und sie stand jetzt schon seit einer Viertelstunde im Stau.
„Mama, gibt es überhaupt lila Bienen? Mama?“
Auch ohne Stau würde sie noch 20 Minuten für die Fahrt und das Parken brauchen. Mindestens.
Maamaaa?
Das war knapp. Verdammt knapp. Eigentlich kaum zu schaffen bei dem Verkehr. Warum mussten gerade jetzt so viele Leute unterwegs sein? Würde sie trotzdem drankommen oder war der Termin dann weg?
„Mama, warum soll der die lila Biene holen?“
Fünf Tage hatte sie jetzt darauf gewartet. Fünf verdammt lange Tage.
„Maaammmaa, gibt es überhaupt lila Bienen?“
Eine kleine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie fuhr herum. Mila schaute sie fragend an, hatte dabei einen leicht genervten Gesichtsausdruck. Anscheinend hatte sie etwas gefragt. Vielleicht auch schon mehr als einmal. Nichts davon hatte es geschafft, Ninas Gedankenwulst zu durchbrechen.
„Tschuldige, Süße, ich musste mich so auf den Verkehr konzentrieren. Siehste ja, ist Stau. Und wir sind ein bisschen spät dran.“
„Mama, warum soll der die lila Biene holen?“
Lila Biene? Wovon redete Mila?
„Schatz, was meinst du? Wer soll was holen?“ Endlich rollte der Verkehr wieder etwas. Nina fuhr schnell an.
„Na, der Sänger, Mama“
Nina zog die Augenbrauen hoch und warf einen verständnislosen Blick in den Rückspiegel. Welcher Sänger?
Sie schaute wieder nach vorne. Gerade noch rechtzeitig. Denn im selben Moment musste sie schon wieder hart abbremsen. Verflucht, ging es denn gar nicht vorwärts? Nur noch 25 Minuten. Und noch viel zu viele Kilometer, Ampeln und Baustellen, um eine realistische Chance zu haben, halbwegs pünktlich zu kommen. Rien n ´allait plus. Nichts ging mehr auf den Straßen, die sie anscheinend nur widerwillig zu ihrem MRT-Termin lassen wollten.
„Mama, hör doch mal hin“. Erst jetzt merkte Nina, dass Musik lief. Wahrscheinlich lief sie schon die ganze Zeit. Nina hatte nichts davon mitbekommen unter der dicken Schicht ihrer Sorgen. Mila spielte von der Rückbank aus mit ihrem Handy Songs über das Musiksystem des Autos. Nina fokussierte ihre Aufmerksamkeit einen Moment lang darauf. Gerade lief „Sofia“ von Alvaro Soler.
Mila summte fröhlich mit und sang dann plötzlich lauthals „Komm, hol die lila Biene“, als Soler in den Refrain überging.
„Süße, der singt nicht über eine lila Biene“.
„Doch, hör doch mal hin.“ Sie summte wieder mit, dann kam der Refrain und sie schmetterte wieder lauthals „Komm, hol die lila Biene.“
„Der Song ist in Spanisch.“
Endlich löste sich der Stau auf. Nina gab Gas und wechselte geschickt die Spuren, um möglichst zügig voranzukommen.
„Na, und? Mir doch egal.“
Vielleicht hatte sie doch noch eine Chance pünktlich zur Untersuchung zu kommen. Sie fühlte sich erleichtert. Aber gleichzeitig kam auch die Unsicherheit zurück. Die Angst, die sie seit fünf Tagen versuchte, in Schach zu halten. Was, wenn sie etwas finden würden?
„Hase, in Spanisch gibt es keine lila Biene. Der Alvaro Soler singt was ganz Anderes. Irgendwas mit „dime“
Mila schaute ihre Mutter verständnislos an, als hätte diese selbst Spanisch gesprochen.
„Na und?“
Ihre Tochter erhöhte die Lautstärke und ließ das Lied in den nächsten Minuten in Endlosschleife laufen. Jedes Mal, wenn der Refrain kam, sang sie voller Inbrunst von der lila Biene. Dabei würdigte sie ihre Mutter keines Blickes. Wenn Mütter keine Ahnung haben, musste man ihnen dies schließlich irgendwie deutlich machen.
Nina war dankbar für die Funkstille. Sie lenkte ihren Wagen ohne weitere Staus durch die Straßen der Innenstadt hinaus in den Vorort, in dem die radiologische Praxis lag. Sie spürte, dass ihr Atem mit jedem Kilometer den Weg bis in den Bauch weniger schaffte und stattdessen im Brustkorb hängenblieb, sich schon in der Kehle zu verfangen schien. Ihre Handflächen fühlten sich plötzlich leicht klamm an. Ihr Hals schmerzte rauh, ihr Mund fühlte sich so trocken an, als hätte jemand wie beim Zahnarzt allen Speichel herausgesaugt.
„Komm, hol die lila Biene. Komm, hol die lila Biene. Mama, los, sing doch mit.“
Nina wollte antworten, aber ihr versagte die Stimme. Was würde aus Mila werden, wenn…. Sie dachte die Frage nicht zu Ende, aber selbst das Fragment hing nun verbissen in ihrem Kopf fest. Drehte dort Loopings, eroberte jede Ecke.
„Mama, die lila Bienen sehen aus wie gezeichnet. Mit so lila, schwarzen Streifen und schwarzen Flügeln. Und sie drehen so lustige Kringel in der Luft.“
Wer würde für Mila sorgen, wenn sie ins Krankenhaus müsste?
„Die sind überall. Siehst du sie auch?“
Nina hatte den Parkplatz der Praxis erreicht und stellte den Wagen ab. Wie benommen betrat sie die Praxis, meldete sich am Empfang an. Mila summte immer noch Sofia und schmetterte ihre eigene Versions des Refrains. Nina erklärte ihr zum bestimmt zehnten Mal in den letzten fünf Tagen, dass sie im Wartezimmer bleiben müsste, bis die Untersuchung gelaufen wäre. Sie gab ihr einen schnellen Kuss und drehte sich noch zügiger weg, damit ihre Tochter ihre Angst nicht sehen, nicht spüren konnte.
„Mama?“
Nina drehte sich noch einmal um.
„Mama, sie sind überall, die Bienen. Komm, hol die lila Bienen.“ Mila lachte sie an.
„Sind sie so weit? Dann folgen Sie mir bitte zum Vorgespräch.“ Nina hatte die Dame gar nicht kommen gehört. Sie drehte sich um und bemerkte, dass Mila wieder angefangen hatte zu summen.
Nina wurde in ein Zimmer gebracht, in dem die zuständige Radiologin saß. Kurz und knapp erklärte diese ihr den Ablauf des MRTS. Business as usual für die Spezialistin, für Nina mehr als das. Vielmehr.
Und trotzdem merkte sie, dass sie während der Ausführungen zunehmend gedanklich abdriftete, nur noch mechanisch nickte. In ihrem Kopf hörte sie auf einmal den Song „Come on Eileen“, einen alten Hit aus den 80igern. Wie kam sie ausgerechnet darauf? Jetzt, da es nicht um schmissige Unterhaltung, sondern für sie vielleicht um Leben oder Tod ging.
„Come on Eileen, ich schwör dir, hier riechst… . Jetzt musste sie doch schmunzeln. Als Kind hatte sie den Text nie so ganz verstanden, hatte einfach mitgeträllert, so wie sie das Lied verstanden hatte. Später, als ihr Englisch besser geworden war, war ihr klar geworden, dass nichts in dem Song gerochen hatte.
Hastig stand Nina auf. „Ich muss noch einmal kurz ins Wartezimmer zu meiner Tochter.“ Sie wartete nicht auf die Antwort der Radiologin, sondern steuerte die Tür an und war schon auf dem Weg zu Mila.
Nina nahm ihre Tochter in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr: „Sie haben so lustige knubbelige Füße, deine lila Bienen, oder?“
Mila strahlte ihre Mutter an. „Du siehst sie auch?“
Nina nickte ihr zu, drückte sie an sich und sang direkt in Milas Haare „Komm, hol die lila Biene.“
Dann stand sie abrupt auf und ging wieder.
Als sie das Zimmer der Radiologin betrat, sagte sie mit fester Stimme: „Ich wäre dann so weit.“
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